Textstellen

In Stein gemeißelt

Robert Sukrow wird von Gummersbach förmlich angezogen und muss in der Aggertalsperre etwas loswerden.

Weinen ist doch nur Augenwischerei, sagte ich mir, hielt die Fäuste geballt in den Jackentaschen und schaute auf das tintenblaue Wasser der Aggertalsperre. Es hatte sich viel angestaut mit der Zeit, mehr bei mir als hier, doch vielleicht war es gerade das Symbolhafte, das mich wieder an diesen Ort gebracht hatte. Ich sah meinen Vater vor mir, wie er mit den Händen hinter seinem Rücken konzentriert die Sperrmauer abspazierte, die Ärmel seiner hellgrauen Jacke hochgekrempelt, sein weißes, weiches Haar leicht federnd. Es war einer der letzten gemeinsamen Ausflüge, die wir gemacht hatten, mittlerweile vier Jahre her. Schon da hatte er kaum noch Kraft in seinen Beinen, auch sein Herz war nur noch ein halbvoller Tank. Er ließ mich nicht neben ihm gehen, und ich glaubte jetzt zu wissen, warum. Tränen liefen mir die Wangen hinab, ein leichter Wind kühlte sie etwas ab und sie flossen spitz auf meinen Mund zu. 

Ich kannte nicht viel von Gummersbach. Vor knapp zehn Jahren hatte ich hier auf Empfehlung eines Bekannten einen Bildhauerkurs besucht. Sicher hätte ich auch an einem anderen Ort einen solchen Kurs gefunden, einen, der mir eine zweistündige Autofahrt erspart hätte, doch war es gerade der Ortsname, der mich reizte, mich förmlich zu sich rief. Ich musste bei Gummersbach an das Album Ummagumma von Pink Floyd denken, und, wie sicherlich nicht wenige Menschen, an ein Gummiband. Und jetzt gerade bewies mir der Ort, dass er eines war, denn ich war zurückgekehrt, hatte mich in eine Zeit zurückgeschossen, in der es noch kein Vermissen gab, nur eine leichte Ahnung, eine schleichende Angst. Zu meinen Füßen lag die unförmige Figur, die ich mit einem Meißel aus einem Stein geschlagen hatte. „Ein Fisch?“, fragte mich Ulla damals, meine Kursleiterin. „Vielleicht“, antwortete ich und verschwieg ihr damit, dass es ein schlafendes Kleinkind sein sollte. Mit dem Sterben der Eltern beginnt das Erwachen, die alten Sommer verschwinden, die Rituale auch, weil sie kein Gewicht mehr haben. 

Wie Bürstenhaare ragten die kleinen Wälder aus dem Wasser. Ein Mann mit schlanken weißen Armen paddelte in einer zitronengelben Schwimmweste mit einem Kanu von links nach rechts, den Blick fest nach vorne gerichtet. Ich wartete bis er apfelkerngroß war und griff langsam zu dem Stein, den ich in ein Betttuch gewickelt hatte. Heute sollte er wirklich ein Fisch sein. Und ich ein letztes Mal hier. 

Vita

Robert Sukrow, geboren 1973, lebt und schreibt in Aachen. Im Alter von 16 Jahren zeichnete er Cartoons, entdeckte dadurch den Wert der Sprechblase und ließ diese ab seinem 20. Lebensjahr nur noch allein für sich sprechen. Inspiration zu seinen oft traumwandlerischen Texten holt er sich bei Taxifahrten, auf Reisen und der Fabrikarbeit. Der Klang und vereinzelt auch Witz von Ortsnamen verführt ihn hin und wieder zu kleinen Ausflügen, deren Ziel es ist, dort den Anfang einer Geschichte zu finden. So führte ihn ein Ausflug nach Gummersbach.