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Grün

Sylvie Schenk über die Universitätsklinik in Aachen.

Irène hing am Tropf und wartete ungeduldig auf das Ende der Kortisoninfusion, um aufstehen zu können. Eine Viertelstunde später ging sie zum Aufzug B3, fuhr anschließend ins Parterre, lief auf einem gelb-apfelgrün-schwarz gestreiften Teppichboden an einem dunkelgrün bepflanzten Innenhof vorbei, blieb kurz an dem zum Hof gerichteten Riesenfenster stehen wie vor einem großen fischlosen Aquarium und ging dann zum Empfang, wo sie eine Bahnhof- bzw. Flughafen-Stimmung einfing. Die Drehtür spuckte unaufhörlich Menschen aus und entließ sie. Die Uniklinik in Aachen war Krankenhaus, Universität, Forschungslabor, ein interdisziplinäres Riesengebäude, daher dieses wimmelnde Leben überall.

Sie erstarrte einen Augenblick vor der Rolltreppe, fixierte eine hängende Uhr, vier vor fünf, schaute zu ihrer Linken auf eine Pferdestatue: achwefelgelb und grün. Mit der Farbe der Hoffnung hatte man hier nicht gegeizt. Sie blickte erneut auf die Uhr: Fünf vor fünf, unmöglich, ihr Herz klopfte verrückt, in ihrem Kopf tickte es falsch, oder spielte eine Uhr bekloppt, ein Gag der Erfinder dieses Hauses, das von rationalen Architekten entworfen worden war. Könnte eine Überdosis an Rationalität sich ins Gegenteil, das hieß hier in den Wahnsinn verkehren? Sie hob den Blick zu den Metallunterdecken, dann wieder zur Uhr, drei vor fünf, die Zeit ging nicht zurück. Ein junger Mann, der die Rolltreppe nehmen wollte, hielt an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ja, alles in Ordnung, sie suche nur die Cafeteria. Er lächelte und sie auch, die Begegnung zweier Lächeln hätte überall passieren können, dachte sie, nicht nur in diesem Krankenhaus, das nicht wie ein Krankenhaus aussah, eher wie ein für einen dystopischen oder utopischen Film errichtetes Gebäude, über dessen Teppichboden sie eben geglitten war wie in einem Luxushotel. Sie betrat die Cafeteria nicht, nur einen Laden mit Zeitschriften, kaufte einen Schreibblock und wollte in ihr Zimmer zurückzukehren. Sie hatte sich zwar die Etage gemerkt, die Flurnummer aber nicht, so irrte sie durch verschiedene Gänge, setzte sich einen Augenblick auf einen Stuhl, betrachtete schwer atmend den Teppichboden. Er stand wie das ganze Haus unter Denkmalschutz. Vielleicht sollte sie da immer wohnen bleiben.

Am nächsten Tag fuhr sie wieder mit dem Aufzug B3 und setzte sich vor das Klinikum. Die Sonne streifte ihre Wangen. Sie schaute mit Sympathie den Rauchern zu, die mit Infusionsschläuchen in den Armen ihre Zigaretten genossen. Ein Helikopter, der auf der grünen „rettenden Hand“ der Uniklinik landete, ließ alle den Kopf heben. Die Rampe erinnerte Irène an eine Gottesanbeterin (jeder weiß, dass die Gottesanbeterin ihren kleinen Partner gern frisst; Irène entfernte sich schnell). Vor ihr stand das Hightech-Gebäude mit seinen Türmen, den roten Gittern, Fluchttreppen und Fluchtleitern, mit seinen Eingeweiden, den grauen und gelben Luftröhren. Sie mochte dieses nach außen gekehrte Innen. Ja, es passte zu ihr.

Vita

Sylvie Schenk wurde 1944 in Chambéry, Frankreich, geboren, studierte in Lyon und lebt seit 1966 in Deutschland. Sie veröffentlichte zunächst Lyrik auf Französisch und schreibt seit 1992 auf Deutsch. Sie lebt bei Aachen und in La Roche-de-Rame, Hautes Alpes.