Textstellen

Dürener Depesche

Michael Lentz über die Vertrautheit der Heimat in der Ferne.

Es ist eine merkwürdige Sache, dass man anfängt, über das Alter nachzudenken, wenn es vielleicht schon zu spät ist. Nicht, dass es zu früh für den Tod sein könnte, wie könnte er jemals zu früh sein, vielmehr kann es geschehen, dass einem die Heimat in der Ferne plötzlich vertraut wird, was sie doch zu Lebzeiten niemals war, vor Ort. Die Stadtmauer, deren Reste man befühlen kann und die in dieser Stadt einmal nichts mit dem 19. November 1944 zu tun haben. Der Dicke Turm. Der Spießenturm. Der Grönjansturm. Der Pletzergassenturm. Und all die Tore, die man im 19. Jahrhundert wieder abgerissen hat: Holz Köln Ober Philipps Wirtel. Und was, wenn die Bevölkerung über die Grenzen der Mauer hinweg zugenommen hätte? Wäre die Mauer dann nicht ein Gefängnis geworden? Der Bismarck im Theodor-Heuss-Park, den man ebenso zu entsorgen vergaß wie den Flammenengel des gottbegnadeten Wamper. Man hätte die Flammen sofort im Wannenbrunnen löschen sollen.

Und eine Stimme sagt: Erhebe dich, gehe nach Hause und lösche die Flammen. Aber welche Flammen sollen das sein? Die inneren. Man sitzt beim Frühstück, überlegt kurz, welches denn die wirklich dringenden Geschäfte des Tages sind, nimmt einen Schluck Kaffee, der schnell seine Wirkung verliert, und so nimmt man einen weiteren Schluck Kaffee und fragt sich, welche Wirkung er denn haben soll oder welche man denn wünscht, und zwischen dem einen oder anderen Schluck Kaffee, der auch diesen Morgen zu stark geworden ist und der auch diesen Morgen schnell abkühlt, betrachte ich den Kaffee und bin mir jetzt ganz sicher, dass er von Sekunde zu Sekunde die Farbe ändert, er wird braun wie eine Amsel, schwarz wie ein Loch im Himmel, durch das ich einen Apfel werfe, und der Apfel fällt durch das Loch, ohne je einen Grund zu erreichen, und alle Geräusche fortan sind das Aufkommen des Apfels auf den Grund, ein dumpfes Klatschen, ein trockenes Scheppern, und nun, ganz unbeirrt, weiß ich, das ist das Heimatgefühl, einen letzten Schluck Kaffee noch im Mund, sehe ich die Heimat in einer Reihe von Bildern, die mich sogleich bewegen, aufzubrechen, um nachzusehen, ob es in der Heimat denn wirklich so ist, ob sie sich also in ein Museum verwandelt hat, das man aufsucht, um das Leben zu genießen, indem man fern von ihm ist. Folgte man aber wirklich der Stimme und würde vor Ort „– natürlich nicht mit Absicht, aber durch die Tatsachen – niedergedrückt“, „litte an Beschämung, hätte jetzt wirklich keine Heimat und keine Freunde mehr“; wäre „es da nicht viel besser“, man bliebe „in der Fremde“?

Der Weg führt vom Bahnhof runter links in die Josef-Schregel-Straße, rechts durch den eigentümlich schmalen Langemarckpark, links in die Philippstraße, die in die August-Klotz-Straße mündet, am Papiermuseum und der alten Getreidemühle vorbei links in den Park meiner Kindheit, in dem ich zum ersten Mal eine Skulptur gesehen habe, eine nackte Frau in Stein. Sie sitzt auf einem hohen Steinsockel, der sich nach oben hin dreimal stufenweise verjüngt, und schaut schräg zu Boden, ihren angewinkelten linken Arm mit dem Ellenbogen auf den Oberschenkel ihres auf eine Wölbung hochgestellten linken Beines gestützt, ihre linke Hand stützt ihren Kopf. Das Gesicht ist um Mund, Nase und Wangen verwittert, als finge die Zeit an, sie langsam abzutragen, so langsam, dass sie erst nach Hun­derten von Jahren ganz verschwunden sein würde. Ihre rechte Hand umfasst einen Krug oder ein Füllhorn, vielleicht ist sie im Begriff, baden zu gehen, der Bach oder See ist jedoch mitt­lerweile ausgetrocknet, da jemand sie aber in Stein verwandelt hat, kann sie nirgends anders hin, um ihren Körper in Wasser zu tauchen. Mutter sagte, sie sei anmutig, ich fand sie traurig. Oft saß ich auf ihrem Schoß und sprach mit ihr, sie erzählte, dass sie wie ein Wunder im Bombenhagel unversehrt geblieben sei, was man leider auch von einer großen Figur aus Bronze sagen müsse.

Die nackte Frau in Stein wurde für mich mit der Zeit zu einer gewöhnlichen Einwohnerin der Stadt und zu einer Vertrauten, mit der ich mich gut unterhalten konnte. Wunderte ich mich anfangs, dass kein Schild an ihrem Sockel angebracht war, wer sie denn sei, so wäre mir nun ein solches Schild unangemessen vorgekommen, schließlich war sie ja kein Verkaufsgegenstand in einem Kaufhaus oder ein Ausstellungsstück in einem Museum. Ich erzählte ihr alles, alles war Familie, sie hörte geduldig zu, unterbrach mich nur selten. Das Schönste aber war, sie war immer da. Und auch jetzt ist sie da, und ich erzähle ihr alles, und nachdem ich ihr alles erzählt habe, ein ganzes Leben in Sätzen wie diesen, mache ich mich auf den Weg zum Bahnhof zurück. Und bald schon sitze ich wieder in der Fremde beim Frühstück und fange an, über das Alter nachzudenken und dass es einem die Heimat vertraut macht wie die Frau in Stein.

Vita

Michael Lentz, 1964 in Düren geboren, ist Literaturwissenschaftler, Lyriker und Autor von Romanen, Erzählungen, Hörspielen und Theaterstücken. Er wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem 2001 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und 2012 mit dem Walter-Hasenclever-Literaturpreis. Seit 2006 ist er Professor für Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Michael Lentz lebt in Berlin und Leipzig.