Textstellen

Die Insel

Isabelle Lehn über die Insel Grafenwerth in Bad Honnef und den Versuch, ein „Kind für draußen“ zu werden.

Kein Kind für draußen, diagnostizierte meine Großmutter, als wäre ihre Enkelin von einer seltenen Krankheit befallen. Es klang wie eine Reklamation, denn das Leben spielte sich nun mal draußen ab. Das wirkliche Leben, das sich nicht einfach erfinden ließ, als wäre es ein Trickfilm oder ein Comicheft, eine Geschichte meiner Hörspielkassetten. Das wirkliche Leben war eine Tatsache, und für meine Großmutter, die Tatsachen von Tätigkeit ableitete, bestand es vor allem aus Arbeit. Die Arbeit wartete auf dem Feld, wie meine Großeltern den Nutzgarten nannten, den sie in der Nähe bewirtschafteten, denn am wirklichen Leben musste man teilhaben, auch wenn man es sich nicht ausgesucht hatte.

Ich sah das anders. Mein wirkliches Leben ließ noch auf sich warten, und bis es endlich so weit war, brauchte ich vier Wände, um mir vorstellen zu können, dass mir die ganze Welt offenstand. Ich blieb lieber im Haus, wenn ich zu Besuch bei den Großeltern war, am Stadtrand von Bad Honnef, wo die Großmutter sich vorgenommen hatte, ein Kind für draußen aus mir zu machen. Ein Kind, das aufblühte, wenn man es zwischen Obstbäume und Kohlköpfe setzte, wo es die Finger in die Erde oder ins Fell eines schwarzweißen Kaninchens vergrub, als wüsste es nicht, dass die Kaninchen im Kochtopf landeten, wenn sie dem Großvater im Züchterverein keine weiteren Pokale versprachen.

Um mich zu kurieren, ging die Großmutter mit mir auf die Insel. Durch das Gässchen und die Unterführung, dann weiter, über die Fußgängerbrücke, die über die Bahngleise führte. Darunter lag ein Rangierbahnhof, auf dem die Waggons immer stillstanden. Auch der Rest der Zeit schien einfach stillzustehen, wenn wir sie unterbrachen, um gemeinsam auf die Insel zu gehen. Und selbst das Wasser, das die Insel umarmte, schien keine Lust mehr darauf zu haben, sich auf den Fluss der Zeit einzulassen. 

Der Flusslauf, über den man auf die Insel gelangte, hieß der „Tote Arm“. Das fand ich sehr passend, denn während ich wusste, dass man im Rhein nicht schwimmen gehen durfte, weil immer wieder Menschen ertranken, die zwischen den Kribben von der Strömung erfasst wurden, geschah am Toten Arm wirklich: gar nichts. Es war total tote Hose. Sogar dem Wasser war sterbenslangweilig, und wenn man es trotzdem mal unter der Oberfläche zucken sah, dann waren es vermutlich bloß die Aale, die wohl sowas wie Aasfresser waren.

Auch ich spürte bald ein Kribbeln im Nacken. Mein ganzer Körper schien einzuschlafen. Auf der Brücke gab es keinen Schatten, und vielleicht war auch ich kurz davor, plötzlich einfach abzusterben, vor lauter Draußensein und Langeweile. Meine Großmutter packte trockenes Brot aus, das wir gemeinsam hinabfallen ließen, um damit die Enten zu füttern. Und auch die Zeit, die sie mir opferte, indem sie sie mit Nichtstun verbrachte, musste ich schlucken wie zu trockenes Brot: ohne zu husten, denn ich wollte nicht undankbar sein. Wir gingen zum anderen Inselufer, wo ich lustlos ein paar Steine in den Rhein warf. Sie wollten einfach nicht springen, aber so leicht durfte ich mich nicht geschlagen geben, um doch noch ein Kind für draußen zu werden, wie die Großmutter es sich von mir wünschte. Wir setzten uns zusammen in den Kies und malten uns aus, wohin die Kohlenschlepper wohl fahren würden – als ließen sie uns nicht hier zurück. Für den Heimweg nahm ich mir noch ein paar Steine mit, um den Toten Arm aufzuwecken. 

Ein Kind für draußen sollte aus mir nicht mehr werden. Meine Zeit verbringe ich immer noch am liebsten in geschlossenen Zimmern und im Glauben an erfundene Geschichten. Die Geschichte der Insel, wie meine Großmutter sie sich erzählte, ist die Geschichte eines überschaubaren Lebens, das sich im fußläufigen Radius abspielte. Eine Geschichte aus der wirklichen Welt, bevölkert von bestimmten Artikeln – das Gässchen, die Brücke, die Insel –, als gäbe es keinen anderen Ort für sie und keine größere Sünde, als sich ein anderes Leben vorzustellen. Sie ist das Märchen, das meine Großmutter sich von ihrem Leben erzählte. Als hätte ihre Geschichte sich immer bereits hier abgespielt und nie von Flucht und Vertreibung gehandelt, an weit entfernt liegenden Orten, aus denen der Krieg sie ans Rheinufer spülte. Das Märchen verschweigt, wie groß ihr fußläufiger Radius war. Es verschweigt den Güterwaggon, mit dem ihre Reise zum Stillstand kam. Und es verschweigt das rollende R, das meiner Großmutter noch auf der Zunge lag, wenn sie den Namen der Insel aussprach. „Grafenwerth“, diesen Namen gebrauchten wir nicht. Die Insel war einfach die Insel, in diesem Märchen aus bestimmten Artikeln und ausschließlichen Orten, das meine Großmutter sich erzählte. Schließlich hatte man keine Wahl, sagte sie, um sich das Heimweh zu verbieten.

Vita

Isabelle Lehn wurde 1979 in Bonn geboren und lebt als freie Schriftstellerin in Leipzig. Sie wuchs mit Blick auf das Siebengebirge in Wachtberg auf und verbrachte große Teile ihrer Kindheit in Bad Honnef, wo ihre Großeltern lebten. Nach Studium und Promotion in Tübingen zog sie 2007 nach Leipzig, wo sie ein Studium am Deutschen Literaturinstitut anschloss und ebenda bis 2017 als wissenschaftliche Mitarbeiterin arbeitete. Lehns erzählende und essayistische Prosa erscheint im S. Fischer Verlag.