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Der Geist der Burg Linn

Akram El-Bahay lässt einen jahrhundertealten Krefelder Burgherren wiederauferstehen.

In jeder Burg gibt es ein Gespenst. Dies war früher allgemein bekannt. Allerdings schlafen Gespenster oft und gerne sehr ausgiebig und werden daher selten gesehen. So kam es, dass sich mit den Jahren die Ansicht durchsetzte, dass die Sache mit den Geistern nur eine Geschichte sei, die man Kindern erzählte. Auch um die Burg Linn herum, die inmitten des wunderhübschen Krefelder Stadtteils gleichen Namens liegt, kam es zu diesem Irrtum.

Als sich eines Tages eine wundersame Gruppe von Menschen bei der Burg einfand und einen ordentlichen Lärm veranstaltete, erwachte das Gespenst der Burg Linn aus einem Schlaf, der schon einhundertundfünf Jahre angedauert hatte. Entsprechend griesgrämig war es und brauchte ein wenig, bis es wusste, wo es war. Und bis es wieder wusste, wer es eigentlich war. Otto von Linn. Der Name sickerte nur langsam in den nebelhaften Kopf des Geistes. Die Erinnerung an das Leben, das er einst geführt hatte, kam ebenso zögerlich. Der dritte Kreuzzug in den Orient. Der Bau der Burg im Rheinland. Die Zahnschmerzen. Die Krankheit. Der dunkle Tod. Himmel, dachte das Gespenst bei sich, als es sich aus dem Grab erhob, in dem es auf seinen Knochen gelegen hatte, ein wenig Ruhe hatte es sich nach solch einem Leben doch wohl verdient! Reichlich verärgert machte es sich auf die Suche nach dem Ursprung des Lärms. Dazu bestieg es den hohen Turm seiner Wasserburg. 

Wie schon vor knapp einhundertfünfundsiebzig Jahren, als er zuletzt hier oben war, wunderte sich der Geist des Kreuzritters darüber, wie groß das einstige Dorf geworden war. Vieles, was der Geist sah, erschien ihm fremd. Er kannte das. Kaum verschlief man mal ein oder zwei Jahrhunderte, war die Welt eine andere geworden. Er blickte auf den Park, der die Burg säumte und in dem zahllose Menschen flanierten und spielten. 

Der Lärm riss ihn aus seinen Gedanken. Endlich erkannte er die Leute, die ihn verursachten. Eine Gruppe reichlich seltsam aussehender Menschen strebte in seine Burg. Die reinste Streitmacht. Nun, vielleicht doch eher nur eine Vorhut. Sie schienen bester Laune zu sein. Die würde der Geist ihnen schnell austreiben. Er musste sich nicht anstrengen, um ihnen unbemerkt zu folgen. Er war, außer zur Mitternacht, unsichtbar. Zu seinem Schrecken sah er, das die Leute in den Rittersaal strebten. Und dort hatten sich bereits weitere Menschen eingefunden. Männer und Frauen und sogar Kinder, die auf Stühlen saßen und auf einen Thron blickten, der noch unbesetzt war. Gab es einen neuen Burgherren?

Der Mann, der nur wenig später den Saal betrat, war nicht mehr jung und trug das Haar lang. Er hatte eine Sehhilfe auf der Nase und war in schwarzes Leder gekleidet. Der Name kam Otto fremd vor. Hohlbein. Und der Mann an dessen Seite besaß ebenfalls einen ungewöhnlichen Namen. Hennen. Das waren sicher keine Burgherren. Der Geist würde sie kurzerhand aus dem Fenster werfen.

Da setzte sich der Hohlbein, und dieser Hennen richtete das Wort an die Menschen. Er sprach über eine verwunschene Nacht, die sich einmal im Monat hier in der Burg Linn ereignen würde. Dann las der Hohlbein. Aha, er war also ein Erzähler. Und die Geschichte ... bannte den Geist besser als jede Beschwörung. Er schwebte neben den Menschen auf den Boden nieder und hörte zu. Ließ sich von Worten tragen, die ihn gleich einem Fluss mit sich nahmen. Lauschte immer vergnügter und wunderte sich über das, was er hörte. War gespannt und erleichtert, als alles in der Geschichte ein gutes Ende nahm. Und war verärgert, als er feststellte, dass der Hohlbein einfach mit dem Lesen aufhörte. Schon wollte er ihn zur Strafe doch aus dem Fenster werfen, da hörte er den Hennen sagen, dass bereits in vier Wochen die nächste verwunschene Nacht mit einem weiteren Vorleser anstünde. Nun, dachte das Gespenst, vielleicht lasse ich sie doch leben. Und höre dem Nächsten zu. Aber wehe ihnen, wenn sie irgendwann beschließen würden, keinen Vorleser mehr zu schicken. Dann ... wäre der Geist der Burg Linn sehr betrübt.

Vita

Akram El-Bahay hat seine Leidenschaft, das Schreiben, zum Beruf gemacht: Er arbeitet als Journalist und Autor. Für seinen Debütroman Flammenwüste wurde er mit dem Seraph Literaturpreis und dem RPC Award ausgezeichnet. Als Kind eines ägyptischen Vaters und einer deutschen Mutter ist er mit Einflüssen aus zwei Kulturkreisen aufgewachsen, deren Mythenwelt ihn gleichermaßen inspirieren. Er lebt mit Frau und Kindern in Meerbusch. Die Ausflüge am Wochenende führen die fünfköpfige Familie nicht selten zur Burg Linn in Krefeld.