Textstellen

Das Wunder in Korneli­münster

Silke Andrea Schuemmer über ein atmendes Brot, ihre erste Begegnung mit Kunst.

Es atmet wirklich. Es keucht und röchelt, rasselt und faucht. Ich bin drei oder vier, und bis gerade habe ich geglaubt, mein Vater habe geschwindelt. Hat er aber nicht. Das Brot atmet. Die pelzige Hälfte hebt und senkt sich, wird in den Laib eingezogen und wieder hervorgestülpt. Es ist eklig, haarsträubend, furchteinflößend und faszinierend, es ist großartig. Ich will es unbedingt am Montag im Kindergarten erzählen, aber ich weiß jetzt schon, dass mir das niemand glauben wird. Hab ich ja selbst auch nicht, vorher. Mein Vater schraubt sonntags oft einen Sitz auf sein Fahrrad hinter den Lenker und dann fährt er mit meiner Schwester und mir irgendwohin. Sie muss selbst treten auf ihrem eigenen Rad, denn sie ist schon sieben, ich fahre bei Papa mit. Von Brand aus, wo wir wohnen, geht es über die Vennbanntrasse nach Kornelimünster. Heute weiß ich, dass es nur knapp vier Kilometer sind, aber mit drei war das ein richtiger Ausflug. In Kornelimünster gibt es bis zu diesem Tag nur eine Sache, die mich interessiert, und das ist die beste Eisdiele der Welt – wobei ich nur zwei kenne – am Napoleonsberg. Eigentlich fahren wir danach direkt zurück, denn für die Klause, eine kleine Kapelle oberhalb von Kornelimünster, können wir Töchter uns nicht begeistern. Aber diesmal hat mein Vater noch eine Idee. Und da erzählt er von dem atmenden Brot. Ich bin katholisch aufgewachsen, also ist es nicht so merkwürdig, dass ich als Erstes frage, ob das ein Wunder ist, so wie die Brotvermehrung und das Brot in der Messe, das zum Leib Christi wird, obwohl es gar nicht blutet. Und dann gibt es in Kornelimünster ja auch die Wallfahrt zum heiligen Kornelius, zu der Pilger von weit her kommen, um sich ein kleines rundes Brot als Wegzehrung abzuholen. Dass Brot viel mit Wundern zu tun hat, weiß ich schon. Aber nein, es ist kein Wunder, sondern – und hier macht mein Vater eine kleine Pause – „Kunst“. Es ist vielleicht nicht das erste Mal, dass ich dieses Wort höre, Kunst, aber es ist das erste Mal, dass es jemand in diesem Tonfall sagt. Es klingt nach Versprechen und Geheimnis und doch auch ein bisschen nach Wunder. Wir fahren über die Straße durch den Ortskern bis zu einem kleinen Schloss. Ein Museum. Noch etwas Neues. Das Kunsthaus NRW, wie ich heute weiß. Spätbarock, eine ehemalige Abtei. Mit drei habe ich andere Prioritäten, ich will jetzt das Brot sehen! Wir steigen die Treppe hinauf. Ich höre ein Schnaufen. Ein Hecheln. Ein Keuchen. Dann stehen wir in einem Raum, in der Mitte zwei Stühle und ein staubiger Holztisch. Suppenschalen. Dazwischen das Brot. Es atmet! Mir bleibt die Luft weg, ich erstarre und traue mich erst einmal nicht näher. Ist das ein Tier, oder ist das Schimmel, ein Monster oder ein Albtraum? Ich frage meinen Vater, was das ist, was das soll, wie das sein kann. „Das ist Kunst“, sagt er und klingt irgendwie zufrieden. Meine Schwester muss mit dabei sein, aber in meiner Erinnerung ist sie völlig ausgeblendet. Da stehe nur ich und das Brot. Kunst. Was für eine Entdeckung.

Vita

Silke Andrea Schuemmer, geboren 1973 in Aachen, wohnt als freie Autorin in Berlin. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Lyrik und Essays und wurde vielfach ausgezeichnet. Seit dem Wintersemester 2021 ist sie Dozentin für Lyrik an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Bei dem in Ihrem Text beschriebenen Objekt handelt es sich um ein Werk von Günter Weseler aus dem Jahr 1975, das allerdings nicht immer in der Ausstellung zu sehen ist.