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Cronenberger Wunder

Kerstin Kempker wird Zeugin eines kleinen und eines großen Wunders in ihrer Geburtstadt Wuppertal.

Die Cronenberger Wunder trugen sich dort zu, wo noch immer die steile Straße aus Remscheid unter der Bahnbrücke, die jetzt Samba-Trasse heißt und dem Spazieren dient, die Hauptstraße erklimmt. Die alte Kirche zur Linken, rechts die Grundschulbaracken, gegenüber das Büdchen und auch die Straßenbahn gibt es schon lange nicht mehr.

Es ist Mittag. Die Sonne scheint, doch warm ist es noch nicht. Mit schwerem Lederranzen tritt das Grundschulkind aus dem Büdchen und wartet auf die Straßenbahn, die es zum Möschenborn bringen soll. Seine Kniestrümpfe sind auf die Knöchel gerutscht, die geflochtenen Zöpfe in Auflösung, und das Kind birgt, so gut es kann, in seiner Hand die weiße Papiertüte mit den Himbeerbonbons. Seine Fingerspitzen zählen nach, ja, es sind zehn, zehn Bonbons zu zwei Pfennig das Stück. Das Mädchen blickt in die spitz zulaufende Tüte und staunt, wie verlockend und beinahe bockig die Bonbons dastehen, schräg aneinander geklemmt, höckerig und weiß bemehlt. Obwohl Fastenzeit ist und es eine Sünde begeht, die es wird beichten müssen, beugt sich das Mädchen über die Tüte, greift sich ein Himbeerbonbon und steckt es in den Mund. Das Klackern zwischen den Zähnen ist lauter als die Autos, die an der Ampel Gas geben und auf die Hauptstraße schwenken. Seine Daumen hinter die Riemen des Ranzens geklemmt, steht das Mädchen breitbeinig da und schaut über die Straße in die offene Kirche hinein. Zwischen den Weihwasserbecken, Beichtstühlen, Männer- und Frauenbänken wandert sein Blick über den Mittelgang direkt zum Altar, wo im goldenen Tabernakel das Allerheiligste hockt. Darüber hängt Jesus, friert, blutet und leidet. Denn bald ist Karfreitag und jetzt, in höchster Fastenzeit, darf wirklich niemand heimlich Süßigkeiten … Da tritt – das Himbeerbonbon liegt dem Kind klobig im Mund – der dicke Pfarrer aus der Kirche und flattert in schwarzer Soutane, die Hand am Birett, eine sperrige Aktentasche unter dem Arm, ohne Grün abzuwarten, quer über die Straße auf das Kind zu, lacht, holt Luft und beugt sich dann zu ihm herab, um verschwörerisch leise zu fragen, ob er wohl auch ein Bonbon bekommen könne. Dass sie beide da stehen, Himbeerbonbons klackern, zum Altar schauen und auf die Straßenbahn warten, das ist das eine Wunder.

Das andere Wunder zeigt sich der Frau, die einmal das Mädchen war, Jahrzehnte später, als sie in Cronenberg an der Hauptstraße Ecke Neukuchhausen, wo es nach Remscheid runtergeht (und ein paar Häuser tiefer ihr Geigenlehrer gewohnt hatte, der auch Remscheid hieß und sich rohe Eier in den Kaffee schlug), die alte Kirche sucht und nicht findet. An der Stelle von „Sankt Joseph“, der so behäbigen wie wehrhaften Kirche mit dem Pickelhaubenturm, stehen jetzt die „Heiligen Ewalde“ mit Türmen wie Schraubendreherspitzen, Typ Kreuzschlitz, einer lang und schmal, der andere breit und kurz. Denn die Kirche „Sankt Joseph“ hatte gesprengt werden müssen, nachdem schon zur Zeit der Himbeerbonbons festgestellt worden war, dass ihre Bruchsteine nur lose aufeinander lagen und jederzeit einstürzen konnten. Die Hitze eines Kriegsbombenbrandes hatte den Mörtel im Mauerwerk pulverisiert. Dass die stille Fürbitte von Pfarrer Wilhelm Cornelissen erhört worden war, als sie beide gegenüber der Kirche an der Haltestelle gestanden hatten, die Himbeerbonbons wie Hostien im Mund, und dass die nur noch lose gestapelte Kirche in all den Gottesdiensten, Orgelexzessen und hochheiligen Festen der folgenden Jahre nicht auf sie niedergestürzt war, das ist das andere Wunder.

Vita

Kerstin Kempker, 1958 in Wuppertal-Elberfeld geboren, verbrachte ihre Grundschulzeit im Stadtteil Cronenberg. Sie ist Autorin von Belletristik und lebt in Berlin. Der Schweizer Verlag Nimbus publizierte ihre Romane und Kurzprosa, bei Matthes & Seitz Berlin erscheint im Mai 2024 ihr Roman Frau im Konjunktiv. Eine Auswilderung.