Autor*innen-Porträts

Dieter Forte

14. Juni 1935 – 22. April 2019

Dieter Forte
© Jürgen Bauer / Süddeutsche Zeitung Photo

Autor und Ort

Dieter Forte kam am 14. Juni 1935 in Düsseldorf zur Welt. Die Familie wohnte in der Josefstraße im Stadtteil Oberbilk, als Kind hat er häufig am Oberbilker Markt gespielt. „Oberbilk war die Welt. Der einzige Ort, an dem man sich sicher fühlen konnte. Eine Republik mit eigenen Gesetzen, eine Gemeinschaft, deren oberstes Gebot Toleranz war“, so beschrieb er den Kosmos seiner Jugend, in den er später auch literarisch eintauchte. 1970 verließ Forte seine Geburtstadt Richtung Basel, kehrte jedoch immer wieder zurück, um seine Mutter in Oberbilk zu besuchen und im Pfarrarchiv von St. Josef zu recherchieren. 2002 erhielt Forte die Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft Düsseldorf, 2005 den Niederrheinischen Literaturpreis. Seit 2005 trägt die ehemalige Düsseldorfer Gesamtschule Kikweg im Stadtteil Eller den Namen Städtische Dieter-Forte-Gesamtschule.

Leben und Werk

Dieter Forte trat zunächst als Dramatiker in Erscheinung. 1970 wurde in Basel sein erstes Theaterstück Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung aufgeführt – und gleich ein europaweiter Bühnenerfolg, übersetzt in neun Sprachen. Das Stück war Gegenstand hitziger Debatten, denn es stellte die Vorgänge um Reformation und Bauernkrieg im 16. Jahrhundert als Ergebnis finanzpolitischer Intrigen dar, von denen vor allem das Kapital profitierte. 

Immer wieder wagte Forte kritische Blicke hinter die gesellschaftlichen Fassaden, so auch in seinen Hörspielen und Drehbüchern, die er in den 1970er Jahren für Fernsehen und Rundfunk schrieb. In dem Spielfilm Der Aufstieg oder Ein Mann geht verloren zum Beispiel enthüllt ein Wirtschaftskapitän die unsauberen Methoden seines unternehmerischen Erfolges und stellt seine Skrupellosigkeit als typisierend für den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg dar. 

Die Frage nach der Position des Menschen in einer desillusionierten Welt beschäftigte Forte fortwährend. Dies hing nicht zuletzt mit seiner Biografie zusammen. Forte wurde 1935 in Düsseldorf geboren; in seine Kindheit und Jugend fiel die Zeit des Nationalsozialismus mit seinen Kriegsschrecken und Notlagen. In der Zeit des Wiederaufbaus wählte Forte zunächst einen sichere Laufbahn als Kaufmann, kam 1960 aber in Verbindung mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus und arbeitete bald für Theater und Rundfunk. 1970 wurde er als Nachfolger von Friedrich Dürrenmatt Hausautor beim Theater Basel und verlegte seinen Wohnsitz dauerhaft in die Schweiz. 

Ab Ende der 1980er Jahre begann Forte die „Tetralogie der Erinnerung“, eine groß angelegte, autobiografisch geprägte Erzählung. Der erste Band mit dem Titel Das Muster erschien 1992 und erzählt die Geschichte einer italienisch-französischen Seidenweberfamilie und einer polnischen Bergarbeiterfamilie, die beide aus politischen, religiösen und wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland fliehen. Die beiden folgenden Bände, Der Junge mit den blutigen Schuhen (1995) und In der Erinnerung (1998), schildern das Chaos des Krieges und die Not der Nachkriegszeit aus Sicht eines Kindes. 2004 erschien schließlich der vierte und letzte Roman Auf der anderen Seite der Welt, der das Innenleben eines Sterbenskranken in einem Lungensanatorium mit der pulsierenden Gesellschaft des Wirtschaftswunders der 50er Jahre kontrastiert. In der persönlichen Erzählung fand Forte eine eigene literarische Stimme – detailreich, atmosphärisch dicht und voller poetischer Strahlkraft.

Von der Literaturkritik erhielt Forte für sein Werk große Anerkennung, vielfach wurde er mit Preisen ausgezeichnet. 2013 löste er sich mit Das Labyrinth der Welt von der eigenen Biografie und begann frei zu erzählen – über Bilder und Bücher und das menschliche Miteinander im Lauf der Jahrhunderte. Das alles vor dem Hintergrund seiner Wahlheimat Basel, in der er am 22. April 2019 verstarb.

Von Ernst Müller

Das Muster (Romanauszug, 1992)

An einem Sonntag im Juni 1914, einem heißen Sommertag, spazierten Yvonne und Gustav zur Pferdrennbahn in Grafenberg, wo man unter den dichtstehenden Bäumen bei kleinen Wetteinsätzen und einem anstrengungslosen Schlendern zwischen Sattelplatz, Führring und Tribüne den Hitzetag verbrachte. Yvonne liebte die Atmosphäre, und Gustav pflegte seine Sottisen über die Herren mit Zylinder. Wenn die Pferde die Zielgerade entlangdonnerten, schweißglänzend, schnaubend mit ihren Hufen auf der harten Grasnarbe trommelnd, angefeuert vom Publikum und den Peitschen der Jockeys, bebte jedes Mal die Erde, vibrierte unter den Füßen.

Wilhelmine und Kannichhelfen hatten ihren Spaß in der Badeanstalt an dem der Altstadt gegenüberliegenden Oberkasseler Ufer des Rheins, plätscherten im lauwarmen, träge dahingleitenden Fluss, ließen sich treiben, übten sich in Schwerelosigkeit. Wilhelmine, die nicht schwimmen konnte, klammerte sich an die glitschigen, grünlich schmierigen Holzplanken der Absperrung, die doch keinen Halt boten. Kannichhelfen tauchte unter ihr hindurch, man kreischte, lachte, schrie, einfach so, nur weil man lebte.

Vater Abraham war mit seinem Schachbrett in den Hofgarten gewandert, um dort mit einem Freund seine übliche Sonntagsnachmittagspartie zu spielen, war aber, da der Freund ausblieb, über den schwarzen und weißen Feldern, den vielen Figuren darauf und den verwirrenden Möglichkeiten, die sie boten, eingeschlafen und hing etwas schräg auf seiner Bank unter einer alten Eiche.

Das Vergnügen war allseits ungetrübt. Irgendjemand erzählte auf einer Wiese liegend, dass irgendwo im Balkan irgendein Thronfolger erschossen worden sei. Die etwas verworrene Geschichte interessierte keinen. Man bereitete sich auf das Ende Juli stattfindende Schützenfest und die dazugehörende Kirmes auf der Rheinwiese vor, das Hauptereignis eines Düsseldorfer Sommers, das Kraft und Ausdauer verlangte – marschieren, schießen, den Sieger feiern, in der Hitze, in der Uniform, mit dem schweren Gewehr, und immer wieder das Glas leeren, auf die Freunde, die Heimat, den Schützenverein, alle sollen leben, alle hoch.

(zitiert nach: Dieter Forte: Das Muster. S. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2010, S. 133f.)