Textstellen

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen“

Simone Scharbert über einen Briefkasten in Erfstadt-Köttingen.

„Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen“,
so also beginnt es, wie so oft in meinem Lesen, in meinem Schreiben, mit Ilse Aichinger. Ich klemme mir einzelne ihrer Sätze unter den Arm, ins Ohr, an den Körper, den eigenen, und ziehe los, die unglaubliche Sprachlosigkeit im Gepäck, deshalb ist es mir lieber, immer dieselben Wege zu gehen,
und auch ich gehe jetzt immer denselben Weg, jeden Tag aufs Neue, seit November 2020, gehe ich, setze einen Fuß vor den anderen, mache Schritt um Schritt, und das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Körpererfahrung, gehen zu können, zu dürfen, immer weiter, auf den nächsten Schritt zu vertrauen, und 391 Schritte sind es, ich habe sie gezählt, auf dem Hinweg, also die einfache Richtung, 391 Schritte von der Haustür zum Briefkasten, genau dann, wenn ich versuche, den kürzesten Weg zu gehen, eine Postkarte in der Hand,
ich gleiche einem Boten der Antike, lese ich bei Jacques Derrida, vielmehr in Die Postkarte, Sätze, die mir Begleitung werden, diesen tagtäglichen Weg säumen, und nein, ich gleiche ja nicht einmal mir selbst an manchen Tagen, das schreibe ich jetzt, ich werde nichts als Karten gesandt haben, betaste diesen Satz, halte ihn vorsichtig in Händen, in diesen Händen, die jetzt manchmal in Handschuhen stecken, türkisfarben sind sie, ein bisschen Retroschick für meine Finger, und je nach Tag, je nach Wetter, stecke ich manchmal die Postkarte (ob ich wirklich nichts als Karten gesandt haben werde, frage ich mich) unter meinen Mantel, ich trage ihn von meiner Tochter auf (und auch ihr werde ich Karten gesandt haben, Worte werden in der Postsortierungsmaschine hängengeblieben sein), grau ist er, ein helles Grau, ähnlich dem Asphalt, der aber Risse hat, Unebenheiten, die ich kennenlerne, Muster und Strukturen, die mal mehr, mal weniger sichtbar sind, und ich gehe zur Hauptstraße weiter, gehe am Rand, gehe auf der Andeutung eines Gehwegs, biege dann nach links, an dieser Stelle habe ich etwa 330 Schritte hinter mir, gehe zum Kiosk, der Briefkasten steht direkt vor ihm, der Kiosk aber steht leer, schon seit Monaten, und anfangs mache ich mir noch Sorgen, ob meine Postkarten überhaupt auf die Reise gehen, ob ich nichts als Karten gesandt haben werde, und der Briefkasten steht so, dass ich mich jedes Mal im Schaufenster sehen kann, mich immer wieder vergewissere, dass der Briefkasten auch geleert wird, auf dem Schild die Leerzeiten nachlese, von Montag bis Freitag um 16.45 Uhr, samstags schon um 10.30 Uhr, und noch nie habe ich gesehen, wie der Briefkasten geleert wurde, (mehr als Hunderttausend gibt es, deutschlandweit, auch das lese ich), sehe nur mich, und wie ich meine Karte hineinwerfe,
gebe mir also Anwesenheit im Moment des Einwurfs, bin mir selbst Zeugin, wie soll man sagen, gegenwärtig, meine ich, mein Ich also, und, wieder eine Leerung, ich komme zurück, ich gehe weiter, 391 Schritte zurück, Wiederholung, Gedächtnis, usw., meine Hände stecken in den Taschen des Mantels, ich werde dir nichts als Karten gesandt haben, aber das stimmt nicht, denn ich werde gesammelt haben, Menschen, die an mir vorbeigegangen sind, die mich gegrüßt, mir zugenickt haben, mir ihre Stimme gereicht für einen Moment, ich werde etwas gesprochen haben, einen kurzen Gruß, ich werde Sprache gesammelt und gesandt haben, all das, in Klammern oder Anführungszeichen, werde ich vieles gedacht und geschrieben haben, so wie diesen Text hier, den ich auch gesandt haben werde, und ob das eine Karte sein wird, werde ich erst dann wissen, wenn ich nichts als Karten gesandt haben werde.

Vita

Simone Scharbert lebt und arbeitet als Autorin in Erftstadt. Ihr anfänglich provisorisch und als Lesungsersatz gedachtes Lockdown-Projekt „A Postcard A Day“ ist ihr mittlerweile zur lieben Gewohnheit geworden: Seit November 2020 collagiert und schreibt sie bis auf Weiteres jeden Tag eine Postkarte; ins Nahe, ins Ferne. Über unverhoffte Begegnungen am Briefkasten freut sie sich.