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Die erfüllbaren Wünsche des Waldes

Henning Heske über den Krefelder Stadtwald.

Artemis wacht über allem. Sie sitzt auf einer weißen Hirschkuh, umringt von dreizehn weiteren Tieren. Eine Krähe auf ihrer Schulter. Zwei Eulen in der Nähe.

Das Jugendstilmosaik im Giebeldreieck des Stadtwaldhauses, der Heimstätte ungezählter Versammlungen, Hochzeiten und Jubiläen. Vor allem aber schützt die Göttin des Waldes und der Geburt die Besucher des großen Biergartens, in dem Probleme abgeladen, Pläne geschmiedet und Prüfungen gefeiert werden.

Ein langer Holztisch, einladend zur Kontaktaufnahme mit Kontaktwilligen.

Wege, die sich umkreisen, kreuzen, beiläufig und doch gezielt für Begegnungen sorgen, für unverhoffte Aufeinandertreffen. Ein Hort des Wiedersehens.

Unweit des Biergartens werden Spaziergänge bei Tageslicht umrahmt vom ploppenden Geräusch aufschlagender Tennisbälle.

Auf der Spielwiese erklingt generationenübergreifendes Lachen. Übertönt nur vom Kläffen herumtollender Hunde.

In längst vergangenen Sommern konnte man samstagabends die Fußballer von Bayer Uerdingen hier die dritte Halbzeit begehen sehen. Eine lange Tafel mit dem Trainer und seinen zwölf Spielern. Bundesligaprofis an Biertischen. Zum Ansprechen, zum Unterschreibenlassen.

Der kleine Tempel am Weiher müsste eigentlich Artemis‘ Zwillingsbruder Apollo gewidmet sein. Er ist aber nach Wilhelm Deuß benannt, einem der Krefelder Seidenbarone, der das Waldgebiet einst der Stadt schenkte.

Dort haben die unverbesserlichen Raucher ein formidables Dach über ihrem vernebelten Kopf. Und eine feine Aussicht auf langsam dahingleitende Wasservögel. Sommers auch auf bunte Tret- und Ruderboote.

An lauen Abenden hat der Verleih des einarmigen Bootsbesitzers oft noch spät geöffnet.

Ich erinnere mich an eine Kahnpartie mit zwei Freundinnen und einem Freund, als der Mondschein durch die herabhängenden Äste der Bäume die leicht spiegelnde, dunkle Wasserfläche erhellte und das Herumalbern langsam verstummte und einer tiefen Stille wich.

Im Winter werfen wir Steine auf das Eis und erzeugen seltsame Klänge. Aber diese Gesänge des zugefrorenen Weihers verstehen wir nicht.

Jeder Schritt verursacht neue Risse. Der Spiegel ist blind, verrät keine Geschehnisse, die sein werden.

Golf und Galopp gehören auch in diesen verwunschenen Wald. Großes Open-Air-Kino liefert der Sommer von der Haupttribüne der Rennbahn.

In den anderen denkmalgeschützten Tribünenbauten lassen sich feine Feste feiern. Dann schlendern die Gäste aufs Grün, grasen mit Sektgläsern in der Hand.

Ich erinnere mich an eine formidable Feier zum erfolgreichen Schulende. Ehemalige Schülerinnen und Schüler schrieben mir freudetrunken Wünsche in die Abiturzeitung, die ich erst zu Hause lesen sollte.

Doch das Heft fiel nachts vom schwankenden Fahrrad und ward nicht mehr gefunden. Der Stadtwald hielt die Zeilen für die Zukunft für immer verborgen.

Am nördlichen Ausgang liegt ein kleiner, schattiger Friedhof. Seine Gedenksteine halten die Erinnerung an ehemalige Wanderer wach.

Nur Artemis weiß, wo die erfüllbaren Wünsche des Waldes liegen.

Vita

Henning Heske, geboren 1960 in Düsseldorf, kam wohnortmäßig nie über den Niederrhein hinaus und lebt seit 2011 in Krefeld. Seine literarischen Auseinandersetzungen finden vornehmlich mit und über Lyrik statt