Textstellen

Die Burg und die Halbleder­jacke

Wolfgang Schiffer über den Ingenhoven-Park in Nettetal-Lobberich.

Ich war zu früh. Ich merkte es, als ich die Düsseldorfer Straße hinunterfuhr, auf das Zentrum von Nettetal zu, das bald nur noch eine Fußgängerzone sein würde, vor der ich rechts in die Marktstraße abbiegen müsste, um dann links über den Doerkesplatz zur Steegerstraße zu kommen. Dort würde mein Verleger im Büro seines Verlags auf mich warten – aber das tat er zurzeit ganz gewiss noch nicht, denn verabredet waren wir erst in ungefähr einer Stunde, und ich würde von hier weniger als fünf Minuten brauchen, um dort zu sein …

Während ich noch überlegte, wie ich die Zeit bis dahin totschlagen könnte, wurde rechts vor mir eine Parktasche frei, unmittelbar neben dem Eingang zum Ingenhoven-Park. Ich stellte meinen Wagen ab und stieg aus; die verbleibende Zeit würde ich hier verbringen.

Erst kürzlich hatte ich in irgendeiner Zeitschrift gelesen, dass der Park mit seinem Teich und dem dahinter gelegenen „Haus Ingenhoven“, einem ehemaligen kleinen Rittersitz, an dessen heraldische Vergangenheit an den Pfeilern des Torbogens zwei Wappen mit drei Leopardenköpfen erinnerten, noch bis heute eine Zierde des Ortes sei. Dort hatte ich auch erfahren, dass das „Haus Ingenhoven“ heute als gehobenes Restaurant diente, spezialisiert auf Familienfeiern und andere Events, und unter dem Namen „Burg Ingenhoven“ firmierte.

Allein unter diesem Namen hatte auch ich das Anwesen in Erinnerung, und als ich jetzt vor dem Eingang zum Park stand, freute ich mich regelrecht, darüber noch die mir so vertraute alte Schmiedearbeit zu sehen: „Die Burg“.

Ja, ich kannte Park und Burg, seit ich denken konnte, war ich doch hier, als dieser Ortsteil von Nettetal noch ausschließlich Lobberich hieß und ein Dorf war, geboren. Doch als Zierde waren sie mir wohl nie vorgekommen; als Kind, dessen Schulweg ab dem zehnten Lebensjahr durch den Park an dem Teich und der Burg vorbei zum Progymnasium geführt hatte, und später als Heranwachsendem, der sich hier in ersten Kontakten zum anderen Geschlecht übte, waren sie mir eher so etwas wie Alltag gewesen, jedenfalls nichts, dem man eine ästhetische Relevanz beimaß.

Welche Erinnerungen mir geblieben waren und welche Sicht sich einstellen würde, wenn ich die Wege von vor mehr als 60 Jahren nun noch einmal gehen würde, darauf war ich gespannt.

Viel kam mir nicht in den Sinn, als ich nun zwischen einem frisch angelegten Spielplatz zu meiner Linken und einer merkwürdigen Baumart mit wurmähnlichem Gehänge an den Zweigen, die sich später als „kaukasische Flügelnuss“ entpuppte, meinen früheren Schulweg noch einmal ging, nur ein Faustduell, das ich hier im Park unter dem Gejohle anderer Mitschüler mit dem Sohn des Schneidermeisters am Ort auszufechten gehabt hatte, hatte ich plötzlich wieder klar vor Augen. Dabei war es wohl um meine unverhohlene Zuneigung zu einer Tochter des Besitzers der damaligen Fabrik Rokal gegangen, auf die auch er ein Auge geworfen hatte. Ob ich den Kampf gewonnen habe, weiß ich nicht mehr; und selbst wenn, es hätte wohl keinen Eindruck gemacht auf die Angebetete, denn mir, dem Sohn des Straßenkehrers im Ort, waren die Türen zu den gehobeneren Gesellschaftskreisen des Dorfes verschlossen. Und das galt erst recht für die Türen der beiden Unternehmerfamilien Niedieck und Kahrmann, die das Dorf mit der Herstellung von Textilien einerseits und Armaturen, Vergasern und einer Modelleisenbahn andererseits schnell zu einer Kleinstadt werden ließen und das Geschehen in ihr bestimmten. Straßennamen erinnern noch heute an ihre Bedeutung, auch wenn ihre Firmen längst nicht mehr existieren.  

Mir blieb damals, wenn auch mit Groll, nichts anderes, als die Aussichtslosigkeit auf engere Kontakte, wenn nicht auf mehr, zu den jungen Damen aus diesen Kreisen einzusehen. In der Folge trieb ich mich nun häufiger abends im Park herum, wenn sich dort die heranwachsenden Töchter der Fabrikarbeiter und -arbeiterinnen trafen, die den Unternehmen zu ihrem wachsenden Reichtum verhalfen; mit ihnen ins Gespräch zu kommen, das anzubahnen, was man, unerfahren, wie man war, unter einer „Beziehung“ verstand, war entschieden einfacher.

Ohne Auseinandersetzungen, Schlägereien gar, lief dies jedoch auch nicht immer ab, insbesondere wenn die bereits etwas älteren Jungs auf ihren Mopeds, vorzugsweisen frisierte Maschinen der Marke Kreidler Florett, in den Park einfielen und einem das Mädchen, mit dem man „gehen“ wollte, streitig machten. Sie waren meist schon in der Lehre oder hatten diese gerade hinter sich; ein aggressives Auftreten, ein Klaps an den Kopf oder sogar ein Faustschlag waren für sie ein geradezu normales Verhalten – und sie trugen alle schwarze, blousonartige Lederjacken. 

Eine solche wollte ich auch, doch meine Eltern waren strikt dagegen. Ich flehte und bettelte. Und schließlich schien es, als gäben sie nach. Doch was meine Mutter mir eines Morgens dann hinhielt, entsprach dem Gewünschten nur in der Form: Es war ein Blouson, ja, aber aus einem imprägnierten Stoff, und das einzige Stück Leder an ihm war ein im Kragen eingearbeiteter Wildlederstreifen.

Nun hatte ich den hinteren Ausgang des Parks erreicht, vorbei an der Burg mit ihren vier runden Türmen und dem Hinweis auf das Erbauungsjahr anno 1403. Links von mir lag meine ehemalige Schule, ein in meiner Erinnerung rotbraunes, klobiges Backsteinhaus. Ein Teil davon leuchtete jetzt jedoch weiß getüncht, und im Innenhof des ehemaligen Progymnasiums ragte ein kleines Minarett in die Höhe. „Güzelvadi Kamii. Türk Islam Kültür Derneği. Türk. Islam. Gemeinde Nettetal e.V.“ las ich über dem Toreingang. Ich schaute auf die Uhr. Es war Zeit, zum Wagen zurückzukehren und zu meinem Verleger zu fahren. Ich würde ihn fragen, ob und wie auch seine ehedem aus Anatolien eingereisten Eltern dazu beigetragen hatten, dass nun auch in Nettetal ihre Kultur und Religion gebührend gefeiert werden konnten.  

Vita

Wolfgang Schiffer, geboren 1946 in Nettetal-Lobberich, arbeitete seit 1976 zunächst als Hörspieldramaturg beim WDR, die letzten zwanzig Jahre bis zu seiner Pensionierung in 2011 war er in leitender Position für Hörspiel, Radio-Feature und Literatur zuständig. Immer schon ist er auch als Herausgeber sowie als Übersetzer aus dem Isländischen tätig gewesen und schreibt Prosa und Lyrik. Er ist Träger des Ritterkreuzes des Isländischen Falkenordens. Wolfgang Schiffer lebt in Köln und Prag.