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Balkan Blues

Dietmar Sous begibt sich mit seinen zwei Großvätern auf Zeitreise durch Breinigerberg.

Früher, lange her ist das nicht, sagte man uns nach, ein eigenes Volk zu sein. Schnell auf 180, giftig wie der Boden, auf dem wir leben. Böses Blut in den Adern, keine Zwischentöne, Anhänger des Faustrechts. Besser einen großen Bogen um Breinigerberg, den Balkan. Das Spuckwort ist bis heute kleben geblieben. Manche schämen sich nicht mehr dafür.

Läden, Arztpraxen und einen Zigarettenautomaten sucht man bei uns vergeblich, auch bei Kirche und Fußpflege läuft man ins Leere. Für viele ein Unort. Die Schule längst dichtgemacht, der blau-weiße Fußballklub vom wesentlich ambitionierteren Nachbarverein zu Tode fusioniert. Aber die Lage ist gut. Zumindest, wenn man nach Aachen, Maastricht und Lüttich will.

Wahrzeichen meines Heimatdorfs ist der Schlangenberg. Ein Hochstapler, sein Gipfel hat noch nie an einer Wolke gekratzt, und vor Schlangen wimmelt es auch nicht gerade. Der Hügel ragt aus einer toxischen Brache mit vielen Kratern und Schützengräben hervor. Balkan. Die Landschaft vor Jahrhunderten mit Hacke und Schaufel nach Galmei durchwühlt, das seltene Zeug war notwendig für die Herstellung von Messing, dann Truppenübungsplatz, heute ein geschätztes Naturschutzgebiet mit Pflanzen, die ein Drogenproblem haben. Es gibt weniger steile Karrieren.

Als die Beatles und Roy Black regierten, war Hochdeutsch eine Fremdsprache in
Breinigerberg. Zugezogene fühlten sich wie im Ausland, das kein Reisebüro im
Programm hatte.
Fünf florierende Kneipen für damals vierhundertfünfzig Einwohner. Einer der Gastwirte war mein Opa Jitt, Passname: Egidius. Rheinische Frohnatur, Stimmungskanone, mit Pappnase auf die Welt gekommen, mit Kölsch getauft. Eine Musikbox auf zwei Beinen: Vor seinem lauten Tenor waren weder Kirchenlieder noch Operetten sicher. Unser Hurra!–Opa.

Lui, bürgerlich: Ludwig, Großvater mütterlicherseits, waren Enkel lästig. Obwohl dem Karnevals-Abstinenzler eine Villa, ein roter Mercedes und am Ortsrand ein Kalk- und Zementwerk gehörten, wo alles, was die Steinbrüche ringsum hergaben, zermahlen wurde, verstand er es geschickt, seine spendable Seite geheim zu halten.
Jitt und Lui hatten sich nie was zu sagen, nur zwei Gemeinsamkeiten: den balkanesischen Wohnort und den Todestag. Jitt, eigentlich kerngesund, erwischte es nach dem Mittagessen, wenigstens das war dem Genussmenschen noch vergönnt, Lui traf es ebenso unerwartet während der Tagesschau.
Der 19. April 1971 war der Montag, an dem die letzte Platte der Doors in Originalbesetzung veröffentlicht wurde, die mit Riders on the Storm. Morgens hatte ich mir Mathe und Latein erspart, um als Erster vor der Instrumenten- und Tonträgerhandlung Götz zu stehen, damit mir keiner die Neuerscheinung wegschnappte. Bei Geschäftsöffnung erfuhr ich, dass Stolberg zu klein für die Doors war. In drei Wochen vielleicht, sagte die sommersprossige Verkäuferin mit den schwarzen Lackstiefeln. Wie es denn mit Simon und Garfunkel wäre?

Am Ende unseres Gartens, an eine verwitterte Mauer gelehnt und in den angenehmen Jahreszeiten von Brennnesseln und Holunder verdeckt, stehen die Grabsteine meiner Großväter.
Doch jetzt ist Herbst, die Pflanzen ducken sich kraftlos weg, die Tarnung fliegt auf. Meine Frau findet den Blick auf die schwarzen Granitklötze gruselig und fordert mich nicht zum ersten Mal auf, etwas zu unternehmen.

Nachdem die Friedhofs-Liegezeit von dreißig Jahren verstrichen war, hatte mein Vetter Nöll, hochdeutsch: Arnold, die Steine angekarrt. Aus Pietät, so Nöll, der Jitts imposanten Glatzkopf geerbt hat, dürfe man nicht zulassen, dass sie als Bauschutt oder Straßenbelag endeten. Er wohne bekanntlich gartenlos zur Miete, aber auf unserem Grundstück sei doch Platz genug. Halb, nein ganz gegen meinen Willen ließ ich ihn gewähren, half sogar beim Tragen. Dabei erinnerte sich Nöll laut an die sonnenbeschienene Doppelbeerdigung seinerzeit, und dass die beiden Opas, die sich zeitlebens nie ausstehen konnten, nebeneinander bestattet worden waren. Seelische Grausamkeit! Mein Vetter lachte, als ihm Jitts Geschichte wieder einfiel, die Geschichte. Egal ob Familienfeier oder bloß Freitag der 14., sie musste erzählt und erzählt werden.

Anfang Juni 39 spazierte Jitt mit seinem Dackelpudel Jüppchen um den Schlangenberg herum. Ohne Warnschuss zerfetzte ein Jäger das nicht angeleinte Tier wegen angeblichen Streunens. Jitt wollte dem Kerl an die Gurgel, da legte der auf ihn an. Über die Forderung nach Schadensersatz und Entschuldigung lachte der Jäger höhnisch.

Kurzentschlossen ist Jitt mit dem Fahrrad ohne Gangschaltung von B nach B gefahren, von Breinigerberg nach Berlin, circa 650 Kilometer in fünf Tagen. Nicht Hitler war sein Ziel, den mochte er nie, der Österreicher war ihm zu fanatisch. Jitt wollte zum Reichsmarschall Hermann Göring, der auch Reichsjägermeister war.
In der Hauptstadt angekommen und um sieben Kilo Körpergewicht erleichtert, fragte Jitt sich bis zur Regierung durch. Zwei Meter hohe Männer vom Totenkopfverband drohten mit Verhaftung und Schlimmerem, falls Jitt nicht augenblicklich das Weite suche, aber da ist glücklicherweise und prächtig uniformiert der Hermann vorbeigekommen. Er hat den verschwitzten Jitt in sein fürstliches Arbeitszimmer komplimentiert, den britischen und auch den japanischen Botschafter warten lassen. Der Hermann hat Cognac und Zigarre kredenzt und gefragt, wo denn der Schuh drücke.
Nach der Audienz ist Jitt nach Hause gefahren, ausgestattet mit einer Fahrkarte Erster Klasse inklusive Drei-Gänge-Menü im Speisewagen. Kaum zurück, kam schon der Jüppchen-Mörder angekrochen, mit der dringenden Bitte um Entschuldigung und reichlich Schadensersatz im Portemonnaie.
Man kann über die Nazis sagen, was man will, aber unter ihnen hat Gerechtigkeit geherrscht, sagte Jitt, immer wieder aufs Neue ergriffen von sich selbst und seinem Hermann.

Lui hatte auch eine Geschichte. Von der erfuhr ich erst nach seinem Tod. Stück für Stück, nach langem Hin und Her aus verstopften Nasen gezogen.
Im Familienkreis hatte es, wenn die Sprache auf den ungeliebten Opa kam, oft
Andeutungen gegeben, abgebrochene Sätze, unwilliges Minenspiel wie unter Schmerzen. Meine Nachfragen sorgten nicht für gute Laune. Man druckste herum, winkte widerspenstig ab. Der Schnee von gestern doch längst geschmolzen! Als habe Lui Schuld auf sich geladen, Schande über die Familie gebracht.

Luis Kalk- und Zementwerk war ein kleines, aber kriegswichtiges Unternehmen. Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion wurden dem Betrieb fünf russische Gefangene übergeben. Ordentlich rannehmen, ohne feiges Mitteid, bis zum Verrecken, lautete die Order. Nachschub ohne Ende.
Irgendetwas muss in Lui gefahren sein. Er ließ Strohsäcke herbeischaffen, die Männer sollten nach der langen Schicht nicht auf feuchtem Steinboden liegen. Schwerarbeiterkost statt der befohlenen Wassersuppe. Schläge und Tritte wurden den schussbereiten Bewachern untersagt. Lui versprach ihnen eine feste Anstellung nach dem Krieg, leichte, gut bezahlte Tätigkeit. Auf das halbe Dutzend Arbeiter vom Balkan, das noch nicht abkommandiert war, glaubte er sich verlassen zu können; keine glühenden Nazis darunter, eher Rote.
Die geforderten Produktionszahlen wurden übertroffen, die Qualität stimmte, aber dann kamen sie doch Mitte Oktober 44, erschossen die Russen, durchsuchten, verwüsteten die Villa, nahmen Lui mit nach Aachen. In einem fensterlosen Keller verhörte ihn die Gestapo. Atempausen waren nicht vorgesehen, alles andere schon. Doch nach zwei Tagen waren die Amis da, sie befreiten Lui und Aachen als erste deutsche Stadt.

Nach 45, Adenauerzeit, gab es keinen Orden, nicht mal warme Worte. Die Villa wurde erneut umstellt, Lui unsanft zur stundenlangen Befragung gebracht. Wegen seines schonenden Umgangs mit den Fremdarbeitern hatte er sich verdächtig gemacht, Kommunist zu sein, Spion für die Sowjetunion.

Es dauerte nicht, wie vage zugesagt, drei Wochen, sondern mehr als einen Monat, bis die Platte der Doors eintraf, die letzte mit Jim Morrison und Love her madly. Sie hätte weder Lui noch Jitt gefallen. Eine dritte Gemeinsamkeit, immerhin.

Vita

Dietmar Sous, geboren 1954, wuchs in Breinigerberg bei Aachen auf, Muttersprache: rheinisches Breiniger Platt. Nach der Einschulung Hochdeutsch als Zweitsprache. Eigentlich wollte er Schlagzeuger werden, doch seit 1981 schreibt er Romane und Erzählungen. Nach jahrzehntelangem Auslandsaufenthalt lebt er nun weider in Breinigerberg.