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Zuflucht

Klára Hůrková über den ersten Ausflug nach Monschau.

Herbst 1990. Ich sitze in einer Aachener Wohnung zusammen mit dem jungen tschechischen Ehepaar Lenka und Karel und wir schauen uns die Nachrichten im Fernsehen an. Seit über einem Jahr leben wir hier. Unser Asylantrag wurde endgültig abgelehnt, da zwischen unserer Ankunft im Westen und der Entscheidung der Ämter die „Samtene Revolution“ stattgefunden hat. Keiner von uns weiß, wie es jetzt weitergeht, vielleicht versuchen wir, einen Studienplatz zu bekommen, jedenfalls wollen wir nicht zurück, die Heimat haben wir in Gedanken ein für alle Mal verlassen.

Die Wohnung gehört Vladimír, einem älteren tschechischen Freund, der schon länger in Deutschland lebt. Gerade besucht ihn seine Schwester aus Prag. „Wir machen einen Ausflug“, sagt Vladimír. „Ich zeige euch Monschau.“ Ich freue mich, einen neuen Ort kennenzulernen. Heute muss ich nicht als Babysitterin oder Putzfrau arbeiten, also passt es wunderbar.

Auf der Landstraße durch eine bewaldete Gegend, die Voreifel heißt, erreichen wir nach einer halben Stunde das Städtchen an der Rur. Es liegt im Tal, umgeben von Hügeln mit Felsen und Mischwäldern, die jetzt in Orange, Gelb und Rostrot in der herbstlichen Sonne glühen. Über der Stadt erhebt sich eine mittelalterliche Burg aus grauem Stein, eine Festung mit runden Türmen und starken Mauern. Sie lässt mich an die Burg Karlštejn bei Prag denken, an den Ort, den wir früher immer Besuchern bei Wochenendausflügen zeigten.

Die Burg ist jedoch nicht die Hauptattraktion. Es sind die Häuser der Innenstadt, die beinahe mittelalterliche Atmosphäre, die uns sofort bezaubert. Als wären wir von einer Welt voller Unsicherheiten plötzlich in einem deutschen Märchen gelandet. Die Architektur ist anders als in Tschechien: Fachwerkmauern mit rot, dunkelgrün und braun gestrichenem Holz, gut erhalten und liebevoll gepflegt, unverputzte Kirchen aus dunklem Stein. Aber auch Stadtvillen, Manufakturen und Gaststätten aus der Zeit des Rokokos, das Rote Haus, die mit rotem Weinlaub bewachsenen Fassaden.

„Ich kann es kaum glauben“, sagt Karel, „dass es so etwas Schönes noch gibt.“

Wir trinken Kaffee bei „Flosdorff“ unter den gelben Linden, fühlen uns eine Weile wie Touristen, diese laut redenden und unbeschwert lachenden Männer und Frauen, die keine Fremden im Land sind und keine existenziellen Entscheidungen treffen müssen. Wir kaufen Brot in der Steinofenbäckerei und eine Flasche Kräuterlikör in einem Souvenirgeschäft, bevor wir zurück nach Aachen fahren.

Für mich ergab sich bald darauf tatsächlich ein Neubeginn. Ich habe den Studienplatz an der RWTH Aachen bekommen und an der Uni meinen künftigen Mann kennengelernt. Karel und Lenka sind jedoch nach ein paar Monaten in die Tschechoslowakei zurückgekehrt und ihre Ehe ist in die Brüche gegangen ...

Später komme ich wie eine Aachenerin nach Monschau zurück. Mit meinen neuen Freunden besuche ich die Ateliers der Monschauer Künstler, betrachte die poetischen Nebellandschaften von Kai Savelsberg und die tanzenden Menschen auf Marktplätzen in den Aquarellen von Manfred Beumers. Ich gehe mit meinem Mann in eine Uhrmacherwerkstatt, wo er seine alte Taschenuhr, Erbstück vom Großvater aus Schlesien, reparieren lässt. Ich bringe alle meine tschechischen Besucher hierhin. Meinem Vater zeige ich die historische Senfmühle, meine Prager Freundin nehme ich zum Handwerkermarkt mit. Mit dem Verleger meiner Gedichtbände besuche ich die Monschauer Glashütte und kaufe mir eine blaue Glaskugel als Wasserspender für meine Pflanzen. Wieder in einem farbenprächtigen Herbst verbringe ich vier Tage in der Villa Ebersdorf, um an meinen Kurzgeschichten zu arbeiten. In den Pausen klettere ich die steilen Wanderwege hoch, laufe entlang der Höhenlinien mit Blick ins Tal und denke dabei an die Wanderwege auf Teneriffa und Machu Picchu.

Eines Tages finde ich mich in der Monschauer Wohnung meines Schülers Adnan wieder, eines afghanischen Flüchtlings, der in Aachen seinen Hauptschulabschluss nachholt. Er wohnt in einem Altbau am Fluss, wohl einer ehemaligen Tuchfabrik, mit seiner Frau und der zweijährigen Tochter. Wir sitzen auf dem Sofa, trinken Tee und Orangensaft. Das Mädchen im rosa Kleid klettert auf meinen Schoß und singt für mich ein Lied in ihrer Babysprache.

„Ich habe großes Glück“, sagt Adnan, „dass ich in Monschau wohne.“

„Aber da fährst du mindestens eine Stunde mit dem Bus zur Schule“, sage ich. „Ist es nicht zu weit? Und ist es hier nicht zu einsam? Wärest du nicht lieber in einer Großstadt, wo du mehr Kontakte hättest?“

Adnan schüttelt den Kopf und seine Augen hinter den Brillengläsern werden ernst. „Auf keinen Fall. Jedes Mal, wenn ich mit dem Bus nach Aachen komme, bedauere ich die Leute, die dort wohnen müssen. Der Schmutz, der Lärm, der Stress ... In Monschau bin ich in der Natur. Alles ist wunderbar ... Und ich habe hier sogar Kunden“, sagt er stolz und zeigt mir Fotos von Modellkleidern, die er selbst entwirft und näht.

Ich lächle. Vielleicht wissen viele Einheimische gar nicht, was für ein Zufluchtsort Monschau ist.

Vita

Klára Hůrková wurde 1962 in Prag geboren. Nach einer kurzen Zwischenstation in Ostbelgien ist 1991 Aachen ihre zweite Heimat geworden. Dort absolvierte sie ihr Zweitstudium der Anglistik und Kunstgeschichte und lernte ihren Mann kennen. Sie schreibt Lyrik und Prosa auf Deutsch und Tschechisch, unterrichtet Kunst und Englisch an einer Schule des zweiten Bildungswegs, übersetzt und malt.