Textstellen

Wo bleiben die Männer?

Barbara Beuys über den Kölner Südfriedhof.

Es geht rund bei den Toten. Das Leben ist kein Schachbrettmuster. Warum auf einem Friedhof vortäuschen, was die, die dort unter der Erde versammelt sind, nie erfahren haben. Vom großen Rondell am Ende der Eingangsallee gehen die Wege in alle Richtungen, biegen und wenden sich. Nichts ist berechenbar.

Der Südfriedhof in Köln-Zollstock, der größte der Stadt, führt die Lebenden durch Wald und Flur. Fügt die Toten in einer grandiosen Landschaft zusammen, zweifach umfangen und überwölbt – von den Bäumen und dem Licht.

Die Bäume.

Sie stehen längs der Wege, quer über lichte Flächen als wuchtig-grüne Wand. Der Winter gibt ihnen neues Profil. Dann ragen die Stämme und kahlen Äste der Hainbuchen, Platanen und Stieleichen wie Krakenarme himmelwärts; krümmen sich zum Zwiegespräch den Reihen dunkelgrüner Fichten und Tannen entgegen; greifen ins Unendliche, während die Wurzeln im Reich der Toten verankert sind.

Das Licht.

Wenn die Sonne am westlichen Rand des Friedhofs langsam untergeht, werfen die Hochhäuser vor dem Haupteingang im Osten die rot-goldenen Strahlenbündel zurück auf die Gräberlandschaft. Am Himmelsgewölbe wandern leichtfüßig Schäfchenwolken.

Am Ende der Hauptallee reckt sich mit Rosskastanien und Rotbuchen ein schwarzes Kreuz in den Himmel. Doch es wirft keinen Schatten. Die Gräber sind selbstbewusst gestaltet; steinerne weiße Engelein, Nackedeis, nur mit Flügeln bekleidet, vertreiben jeden Gedanken an Hölle und Letztes Gericht. Hier herrscht geselliges Beisammensein. Die Grabsteine schmücken Gitarre, Flöte und Trompete. Bei den Italienern blicken Frauen und Männer die Vorübergehenden aus bunten Medaillon-Fotos an. Plötzlich tauchen andere Bilder auf – Bergamo, Särge in Militärlastern, aufgeschichtet in Krematorien.

In schwarzen Basalt ist mit goldenen Buchstaben ein Spruch von Hafez gemeißelt, dem größten Dichter persischer Sprache. Kinder verabschieden sich von den Eltern: „Mach et joot Mam un Pap.“ Und mit jedem Schritt wird deutlicher, wer hier das Sagen hat.

Die Frauen.

Elegante Körper aus Bronze oder weißem Marmor; mal mehr, meist weniger mit dünnem Tuch umhüllt, das großzügig den Busen freigibt. Sitzend, stehend, einen Fuß nach vorne gesetzt. Im Aufbruch? Erträumte Botinnen einer verlockenden Unterwelt, aus Rosen geknüpfte Kränze in der Hand.

Aus der Ferne meldet sich Friedrich Schiller: „Ehret die Frauen / Sie flechten und weben / Himmlische Rosen ins irdische Leben ...“ Ihr Platz ist im Haus. Der Mann dagegen „muss hinaus ins feindliche Leben, / muss wirken und streben ...“  Wehe, sein weiblicher Besitz wagt aufzubegehren gegen dieses Lebensmodell. Schlagzeilen tauchen auf: Junge Frau erstochen, Freund verhaftet. Verkehrte Welt: Wenn es ums himmlische Leben geht, müssen die Frauen ran.

Neben den großen Damen ist Maria in kleinerer Version gefragt: mal ernst, mal heiter, mit strengem oder beschwingtem Gewand, mit und ohne Baby im Arm. Der Südfriedhof bezeugt, was Goethe dem Supermann „Faust“ als Trost prophezeite: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.“

Vita

Barbara Beuys, geboren 1943, studierte Geschichte, Philosophie und Soziologie. Nach der Promotion arbeitete sie u.a. als Redakteurin beim „Stern“ und bei der „ZEIT“. Sie veröffentlichte über ein Dutzend Bücher, darunter Biografien über Annette von Droste-Hülshoff, Hildegard von Bingen, Paula Modersohn-Becker und Sophie Scholl. 2017 erhielt sie den Luise-Büchner-Preis für Publizistik. Barbara Beuys lebt als freie Autorin in Köln.