Textstellen

Windloch im Stadtgebiet

Torsten Krug über die Wuppertaler Hardthöhlen.

Es war auf einer Geburtstagsparty, als Alice erfuhr, wie reich diese Stadt an Höhlen und Bunkern ist. Der Mann erzählte ihr von verzweigten Gängen und unterirdischen Räumen, ganzen Hallen im Kalkstein, zu denen er Zugang habe und ab und zu Menschen führe. Nur der kleinste Teil davon sei öffentlich zugänglich.

Gegenüber von Bayer liegt eine Tankstelle, dahinter lauert der Fels. Doch seit jenem Gespräch weiß Alice: Er ist keine bloße Wand, keine Grenze hinter den Fenstern der sich vor ihm duckenden Architektur, sondern ein verwunschener Schrein. In Zeiten des Krieges verlegte die Chemiefabrik ihre Produktion in diesen Berg. Geschützt vor den heimsuchenden Luftangriffen, verborgen im Stein, lief die Arbeit weiter. Heute, so erzählte der Mann, lagere die Tankstelle alte Reifen darin.

Täglich geht sie mit ihrem Hund auf die Hardt, ein Stück grüner Lunge in dieser grünsten Großstadt Deutschlands. Unter ihr weiß sie jetzt vielfach verzweigte Höhlen, die tiefste reiche hinab bis ins Grundwasser. Ein Stollen diente als Bunker und sollte noch nach einer atomaren Katastrophe Strom liefern. Als sich in den Sechzigerjahren Kinder in dem Höhlensystem verliefen, wurde sein Zugang verschlossen. Sie geht vorbei an versiegelten Einstiegen, Windlöchern, durch die man in Geschichten fallen kann.

Was für ein magischer Ort, denkt Alice über ihre neue Stadt, durch deren Tal die Wupper mäandert, darüber das Rückgrat der Schwebebahn, und unter ihren Bergen: Kammern, in denen lautlos der Wind pfeift, Riesenaragonite, deren Kristalle nur leuchten, wenn die Helmlampe einer Höhlenforscherin auf sie gerichtet ist.

Ob sie den Mann wiedersehen sollte?

Als sie noch klein war, hörte sie eine Schallplatte mit Geschichten von Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Jene Stelle, an der Indianer-Joe in der McDuff-Höhle eingeschlossen wird, noch lange am Stein kratzt und schließlich, ungehört, verhungert, verfolgt sie bis in ihre Träume. Seither zieht es sie auf die Berge, ins Offene.

Ihr Albtraum verbindet Wasser und Höhle. Wasser, das alle Hohlräume füllt, langsam sie und ihre Luft, alle Geschichten verdrängt. Sein steigender Pegel trägt sie hinauf an die Decke der Höhle, der letzte Schein ihrer Lampe leckt an den Hunderten von Metern Fels über ihr. Ein letztes Staunen. Dann verschwindet sie, zwangsläufig, schreckt auf in einem einsamen Bett.

In ihrem Bild für Frieden verbindet sich beides: Sie sitzt vor einer Höhle, mit Blick in ein urwaldbewachsenes Tal. Sie atmet Weite, und ihre Höhle liegt vom Tal aus in sicherer Höhe, geschmiegt an ihren Berg.

Nicht durch Kraft, sagt Ovid, höhlt ein Tropfen den Stein, sondern durch häufiges Fallen.

Ein Hohlraum bedeutet Klang. Klang unter der Erde. Unter Alices Füßen. Die Bäume wurzeln in den Himmeln versunkener Welten. Wenn Alice auf ihnen steht und lauscht, kommt sie heran, die uralte Brandung. Grollend wirft sie sich gegen den Fels, unterspült seine Fugen und Ritzen, ihn, der ein Ufer war. Eine Insel inmitten des Tals.

Vita

Torsten Krug, geboren 1973 in Stuttgart, studierte Neuere deutsche Literatur, Musikwissenschaft und Philosophie in Tübingen und absolvierte eine klassische Gesangsausbildung. Seit 2006 lebt er als freier Regisseur, Sänger und Autor in Wuppertal. Dorthin zog es ihn der Liebe wegen. Jetzt will er nicht mehr weg.