Textstellen

Widerstand

Gerd Sonntag über die Teverener Heide nahe Geilenkirchen.

Wurde ich 1978 gefragt, wie ich heiße, nannte ich irgendeinen Namen und dachte an einen Sechzehnjährigen im Parka, der am barocken Dielenspiegel der Eltern vorbei das Haus verließ. Nur trug ich nicht Parka. Im Sommer war ich sitzengeblieben, fünf Fünfen und eine Sechs, und nach den Ferien füllte sich das Klassenzimmer mit Jüngeren, die ich noch nie gesehen hatte. Weiterhin stand ich jeden Tag im Klassenbuch. Schwänzen, verweigerte Hausaufgaben. Blaue Briefe schlugen durch den Briefschlitz ins Gemüt der Eltern ein wie Handkantenschläge. Stubenarrest und knallende Türen. Zudem wurde ich kurzsichtig; mein Lieblingsbuch, Die Schatzinsel, war an der Wand in zwei Teile zerbrochen.

Freitagfrüh, das letzte Oktober-Wochenende. Die Eltern waren nach Rothenburg ob der Tauber geflüchtet und hatten erst für Montagabend Rückkehr angedroht – eine gute Gelegenheit, wieder die Schule zu schwänzen. Ich wollte in die Teverener Heide, nahe der niederländischen Grenze. Eine Flasche Rotwein aus dem Weinkeller samt Korkenzieher im Rucksack und los ging‘s auf dem weißen Rennrad mit den abmontierten Schutzblechen. Eine Phantom donnerte über den Himmel.

Ich liebte die Heide. Damals wurde noch Kies abgegraben, aber die Dünen und Moore waren schon Schutzgebiet. Und es gab den alten Wald, einmal hatte ich ein Reh gesehen. Erinnerungen an Picknicke, Fußball mit dem Vater, an Butterbrote und Federball und das Lachen meiner Mutter. Keine fünf Jahre war das her, eine halbe Stunde mit den Rädern von Geilenkirchen aus. Hinter der Dorfkirche in Scherpenseel, am grünen Schild „In die Heide“, führt der Weg auch heute noch vorbei an Weizenfeldern und Kartoffeläckern hinein ins Paradies.

Auf einer Bank an einer Roteiche nahm ich meinen ersten Schluck und ließ die Flasche wieder im Rucksack verschwinden. Kalt war es nicht, ein milder Herbsttag, ich begann mich wohlzufühlen. Ein Pärchen schlenderte vorbei. Wie sollte es mit mir weitergehen? Mein pedantischer Vater, eigentlich wäre er gern Lehrer geworden, Latein und Geschichte, hatte er mir anvertraut, aber der Krieg schlug ihm ein Schnippchen. Grauenhafte Erzählungen, die in der Schule nicht vorkamen und wie böse Märchen anmuteten. Das Pärchen kam Hand in Hand zurück.   

„Hallo“, sagte die Frau, ihre offenen grünen Augen lächelten.

„Hi.“

„Du, wir wollen hier unsere Katze beerdigen. Kannst du bitte wegfahren?“

„Ich mag Katzen, macht ruhig.“

„Das ist eine private Sache, verstehst du“, sagte der Mann mit leicht bayrischem Akzent, „pack dich.“

„Ich sehe keine Katze. Ist das Schrödingers Katze?“

„Nun hör mal, Junge. Sie ist im Rucksack, in einem Karton. Sie ist definitiv tot, also nicht Schrödingers Katze.“

„Wie hieß Ihre Katze?“

„Felix“, sagte der Mann. „Los jetzt.“

„Schöner Name. Wie alt ist sie geworden?“

„Wie alt bist denn du, zwölf?“, fragte die Frau.

„Sechzehn.“

„Und gibst dir schon die Kante? Wir haben dich gesehen“, sagte der Mann. „Wie heißt du?“

„Jürgen.“

„Warum machst du das?“ Die Frau war hübsch. Ich fasste Vertrauen, fühlte mich aber auch in die Enge getrieben. „Was ist los?“

„Wie heißt ihr?“

„Iris und Karl. – Schule? Elternhaus?“

„Ich komme nicht mehr klar.“

„Vater?“, fragte Karl.

„Ja, auch.“

„Autoritärer Typ?“

„Kann man sagen.“

„Was macht er?“

„Lehrer. Latein und Geschichte.“

„Wie alt?“

„Keine Ahnung. Mitte fünfzig.“

„War er im Krieg? Hat er was erzählt?“

„Ja, was er erlebt hat, hat er erzählt, teilweise“, ich überlegte, was ich sagen konnte. „Mit neunzehn nach Russland. Er hat über Nacht erwachsen werden müssen. In Polen sprach er mit einer hübschen Frau, die am Vortag ein Dutzend Mal von den Russen vergewaltigt worden war.“

„Und das glaubst du.“

„Ja, natürlich glaube ich ihm!“

„Dein Vater ist ein Nazi.“

„Keiner aus der Familie war in der Partei! Er glaubt an Gott!“

Karl und Iris lachten. „An welchen auch immer“, sagte Karl, „die Schule musst du hinter dich bringen, begreif das. Und deine faschistischen Eltern auch. Lern, was du kannst. Dann mach dein Ding. Und jetzt musst du geh‘n, Jürgen. Felix will unter die Erde. Da gehört er hin, das ist naturgewollt.“          

Tage später sah ich mit den Eltern die Tagesschau. Im nahen Kerkrade hatten zwei Terroristen der RAF, ein Mann und eine Frau, zwei niederländische Zollbeamte erschossen. Ein Phantombild wurde eingeblendet, trotz der klobigen Brille glaubte ich „Karl“ zu erkennen. Ich sagte nichts, auch nicht zu den Fahndungsfotos später.            

Kurz vor dem ersten Schnee im Dezember brauchte ich eine Weile, um die Stelle zu finden, wo Karl mit einem Klappspaten gegraben hatte und Iris den Waldpfad im Auge behielt. Hinter einem Brombeerstrauch kauernd, hatte ich sie beobachtet.     

Es gäbe ein dumpfes Geräusch, wenn dein Stock auf Plastik stieße, nur oberflächlich mit Erde und Laub bedeckt. Depot Nr. 19. Ich nenne es „Felix“. 

Vita

Gerd Sonntag ist 1962 in Geilenkirchen geboren, wo er auch heute lebt. Er studierte Bibliothekswesen in Köln. In den 90er Jahren gab er die Literatur- und Kunstzeitschrift Janus heraus. Er schreibt Gedichte, Romane, Theaterstücke, Aphorismen, Essays und Buchbesprechungen. Die Teverener Heide, im äußersten Westen an die Niederlande grenzend, ist sein liebster Lebensraum von Kindesbeinen an.