Textstellen

Vom mühseligen Leben in Unterbarmen

Christiane Gibiec über das Wuppertal-Unterbarmen des Amerika-Auswanderers Hermann Enters.

Ninge, nange, ning, de Dampmasching … Emma und August sind noch wach, sie singen und flüstern, die kleine Bertha schläft schon. Hermann streichelt ihr die verschwitzte Wange und schiebt die Geschwister zusammen, damit er auch noch in das Bett passt. Er legt sich mit dem Kopf ans Fußende und ist schon fast eingeschlafen, als plötzlich vom Oller herunter ein Lied erklingt, ein zauberhaftes, süßes Tirilieren. Das muss die Nachtigall sein, die der Vater gestern gefangen hat. Schmuderlachend hat er es erzählt. Obwohl es verboten ist, fängt er Singvögel und hält sie in Käfigen an der Hauswand, aus denen es singt und zwitschert. Nur die Nachtigall hat er auf dem Dachboden versteckt.

Es riecht immer noch nach den gekochten Kartoffeln, von denen Hermann beim Abendessen nur zwei abgekriegt hat, wässrig waren sie und ohne ein Stückchen Fett. Der Vater hat geflucht, obwohl er den größten Anteil bekommen hat. Hermann kann vor Schmeit kaum einschlafen, manchmal könnte er die Wände rauflaufen. Ein Teller mit Erbsensuppe und Bratwurstscheiben, den er mal bei der Großmutter bekommen hat, gaukelt ihm durch den Kopf, sein Magen rumpelt. Und es ist keine Besserung in Sicht, im Gegenteil. Mutter ist wieder in Umständen, was bedeutet, dass ein weiterer Esser mit am Tisch sitzen wird. Und wenn das Kind vor der Zeit stirbt, wie schon einmal ein Brüderchen von Hermann, gibt es Tränen und Leid. Trotz ihres dicken Bauches läuft Mutter täglich mit einer Rückenkiepe durch Unterbarmen von Tür zu Tür und verkauft Brot für einen Bäcker. Die paar Pfennige, die sie damit verdient, reichen kaum für ein altes Schwarzbrot, ein paar Kartoffeln und eine halbe Kanne Milch. Davon wird keine Familie satt.

Der zwölfjährige Hermann ist der Älteste der Enters-Kinder, er hat keine freie Minute für sich allein. Nach der Schule fährt er die kleine Bertha, die schwach ist und mit ihren zwei Jahren noch nicht laufen kann, mit einem Handkarren herum. Außerdem muss er Garn spulen, damit der Vater weben kann. Mutter hat schon beim Lehrer Twer in der Auer Schule gefragt, ob Hermann nachmittags freigestellt werden kann, um mitzuverdienen. Der Lehrer hat vorerst abgelehnt, aber Hermann weiß, dass er spätestens mit vierzehn in die Fabrik muss. Fünfzehn Stunden am Tag an der Kette liegen, heißt es dann. So ist das, wenn man zu den Brunen gehört, die nichts haben und nahe am Hungertod sind.

Als das Lied der Nachtigall verklungen ist, hört Hermann im Nebenraum das Weberschiffchen wieder hin- und hersausen und das Anschlagen der Schäfte. Der Vater hat den Webstuhl tagelang vorgerichtet, wofür er keinen Pfennig bekommt, und muss jetzt die Nacht durcharbeiten. Morgen ist Liefertag, da muss er den Stoff zum Fabrikanten bringen. Es darf kein Fehler, kein Knoten drin sein, sonst gibt es Lohnabzug oder gar kein Geld. Und für Hermann setzt es Schläge, weil der Vater behauptet, er hätte das Garn nicht richtig gespult.

Seit einem halben Jahr wohnt die Familie Enters am Böckmannsbusch. Hier sind die Lebensverhältnisse besser als unten an der Wupper, wo der Schnapsteufel die Weber, Wirker und Rotfärber in den Fängen hat und sie unter elenden Bedingungen dahinvegetieren. Am Böckmannsbusch sorgt der Kothener Wald für frische Luft. Der Vater hat im Garten Blumen und Gemüse angepflanzt und einen Stall für die Kaninchen gebaut, die manchmal einen guten Sonntagsbraten hergeben.

Hermann weiß, dass er dem Elend in diesem Tal entkommen will. Viele gehen jetzt nach Amerika, wo es für alle Arbeit geben soll und sehr viel Platz. Da brauchen sich nicht vier Kinder ein Bett zu teilen. Aber woher die vielen Taler nehmen, die die Überfahrt kostet? Hermann will etwas lernen, was aus sich machen, eine besseres Leben haben. Das Zeug hätte er dazu, denn er ist ein guter Schüler. Lesen, Schreiben und Rechnen fallen ihm leicht, nur der Religionsunterricht ist ihm zuwider. Er lernt, was der liebe Gott für einen guten Mann war und ebenso der König. Wenn er zu Hause davon erzählt, schimpft der Vater auf die obrigkeitshörigen Pietisten und Mucker im Wuppertal. Er hält es lieber mit den Sozialisten und singt beim Weben zusammen mit der Mutter Arbeiterlieder, der Rhythmus des Webstuhls gibt den Takt vor.

Was ihr hebt ans Sonnenlicht,
Schätze sind es für den Wicht;
Was ihr webt, es ist der Fluch
Für euch selbst ins bunte Tuch.

Vita

Christiane Gibiec, geboren 1949, ist Autorin und Dozentin für Creative Writing an der Bergischen Universität Wuppertal. Zu ihrem Werk gehören Filme, Romane und Sachbücher. Ihre wichtigsten Arbeiten sind der Film „Das Tanztheater der Pina Bausch“, der historische Kriminalroman „Türkischrot“, der im Wuppertal zur Zeit der Frühindustrialisierung spielt, „Else blau“, ein biografischer Roman über die in Elberfeld aufgewachsene Dichterin Else Lasker-Schüler, sowie „Ein Beweger, ein Impulsator. Der Lackfabrikant Dr. Kurt Herberts“.