Textstellen

Urftland

Norbert Scheuer über die Eifel rund um Kall.

Zuerst gab es nur Dunkelheit; aus der Paarung von Dunkelheit und Chaos entstanden Nacht, Tag, Finsternis und  Luft. Aus der Paarung der Nacht mit der Finsternis entsprangen Verderben, Alter, Tod, Mord Entsagung, Schlaf, Träume, Zwietracht, Elend, Ärger, Zorn, Freude, Freundschaft, Mitleid, sowie die Schicksalsgöttinnen und die schön singenden Nymphen am Abendhimmel.

Großvater erzählte mir, das Urftland, wo die Plissons, Arimonds, Zehner und Caspary und wie sie alle heißen, seit Jahrhunderten lebten, sei vor Millionen Jahren ein tropisches Meer gewesen mit lauwarmen Lagunen, in denen Trilobiten, Seelilien, Korallen, Brachiopoden und urzeitliche Fische schwammen. Manchmal höre ich das Meer und die Brandung in meinem Fass rauschen. Als das Meer in einer Millionen Jahre dauernden Warmzeit verschwand, hatte das Wasser fast nur Sandsteinfelsen, mineralische Sedimente und Kies hinterlassen, auf dem Farne, Schachtelhalme – groß wie Bäume –, dürre Kiefern und Birken wuchsen, die bei Stürmen wie Streichhölzer umknickten und wie Mikadostäbchen übereinanderlagen. Herden von kleinen zotteligen Urpferdchen bevölkerten plötzlich das karge Land. Was weiß ich, wo sie hergekommen sind, vielleicht waren sie die Nachfahren von Seepferdchen. Irgendwann kamen dann die ersten Menschen  ins Urftland, die zuerst in kleinen Dörfern lebten und schließlich Kall gründeten. Der Name Kall, früher Call geschrieben, soll, wie Großvater erzählte, von Canales, dem römischen Bergmannsausdruck für Stollen, herrühren, eine andere Deutung bezieht sich auf das keltische Wort Callus, das schwarz oder dunkel bedeutet. Kall und die Pfründe des Urftlands waren im späten Mittelalter wegen ihrer Eisen- und Bleivorkommen sehr begehrt. Großvater erzählte, die Waldböden seien noch immer gespickt mit Pingen, Löchern und Kuhlen, da dort lange Zeit nach Bleierz, Mangan, Galmei und Silber gegraben wurde. Im Laufe der Jahrhunderte sei das Urftland so von unterirdischen Höhlen und Stollen unterminiert worden. Bäche und sogar ganze Flüsse seien in Erdlöchern verschwunden, dann durch tiefe Stollen geflossen und sprudelnd wieder zum Vorschein gekommen, um schließlich den Stausee bei Kall zu speisen. Auf Keltisch bedeute Eifel Wasserland; inmitten des verschwundenen großen Wassers, der unzähligen Flüsse und Seen liege das Urftland und damit auch Kall wie eine verlassene öde Insel in einem riesigen Ozean.

Vita

Norbert Scheuer, 1951 in Prüm geboren, hat seine ganze Kindheit in der Eifel verbracht, ist dort zur Schule gegangen und hat bis auf eine kurze Studienzeit immer in diesem Landstrich gelebt. Bis 2017 war er als Systemprogrammierer bei der Deutschen Telekom tätig, heute ist er freischaffender Schriftsteller.