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Treppentage

Jasmin Schaudinn über die bunte Holsteiner Treppe in Wuppertal-Elberfeld.

Heute ist Treppentag. Treppentage sind die besten, findet Lene.
Wenn Mama und Dilan Lene und Ünal aus der Kita abgeholt haben, gehen sie zuerst zum Supermarkt. Hier gibt es so viel zu gucken und zu riechen, Lene liebt das und schnuppert fleißig.
Am besten ist, dass Yussuf, der Supermarkt-Chef, ihnen immer eine Hand voll weißer Rosinen schenkt. Lene passt genau auf, dass Ünal nicht mehr bekommt.
Wenn sie an der Ampel warten, flutscht die erste Rosine süß-klebrig in Lenes Mund.

„Auf die Plätze, fertig, los!“, ruft Ünal und rast mit großen Schritten die ersten Stufen hoch, Lene hinterher.
„Erste!“, ruft Lene.
„Gar nicht!“, schimpft Ünal.
„Stimmt, war gleichzeitig“, kichert sie.
Wie ein Regenbogen ragt die Treppe vor ihnen auf. Die Stufe, auf der sie stehen, ist hellgrün. „Jauchzen“ steht drauf. Hat Mama vorgelesen. Das ist Lenes Lieblingsstufe.
„Juchhuu! Jippieh!“, rufen Ünal und Lene. Jauchzen halt, steht ja extra drauf, so geht das an Treppentagen.
Mama und Dilan halten sich zum Spaß die Ohren zu, dabei sind sie noch ganz unten.
„Ihr seid Quasseltanten!“, ruft Ünal, und die Kinder lachen. Eigentlich sind sie froh, dass die Mamas so viel zu erzählen haben, dann können sie sich in Ruhe die Treppe hochspielen.

„Komm, weiter zu Rosa“, sagt Lene.
„Guck mal, ich kann zwei Stufen auf einmal!“
„Und ich drei!“
Mit Riesenschritten klettern sie die Treppe hoch.
„Hallo Rosa“, flüstert Lene und streichelt die hellrosa Stufe. Ünal stellt sich neben sie. „Liebe, liebe Rosa“, sagt er und klopft auf die Stufe.
Die Mamas lehnen weiter unten am Geländer. Alte Trödelinen!
„Rosa ist ganz dreckig“, findet Ünal. Lene nickt.
„Wir machen dich sauber“, verspricht sie und zieht den Ärmel über die Hand.
Zusammen fegen sie Blätter und Steinchen zur Seite. Rosa wird immer sauberer und die Ärmel immer dreckiger.
„So ist es schön!“, entscheidet Ünal. Lene legt eine Rosine auf die saubere Stufe.
„Für dich, Rosa!“ Die nächsten zwei steckt sie sich selbst in den Mund.

Auf den blauen Stufen muss man auf einem Bein hüpfen, das weiß jeder.

„Leise! Jetzt kommt die Hokuspokus-Stufe“, warnt Ünal.
„Weiß ich doch!“ Die beiden schleichen die nächsten drei Stufen hoch und setzen sich mucksmäuschenstill auf die rotbraune Treppenstufe.
„Hast du die Augen zu? Eins, zwei, drei“, zählt Lene.
„Hokuspokus!“, rufen sie wie aus einem Mund. Wie schön das hallt.
Suchend sieht Ünal sich um. „Wo ist denn heute die Zauberei?“, fragt er. Lene runzelt die Stirn und steht auf.
„Ah, hier!“ Sie bückt sich zu einem kleinen schwarzen Käfer. „Ein Zauberkäfer!“
Sofort krabbelt der Kleine auf Lenes Zeigefinger.
„Lass mich auch mal“, drängelt Ünal. Nachdem der Käfer auf beiden Kinderhänden spazieren gehen durfte, wird er ganz zart am Rand der Treppe ausgesetzt. Damit niemand drauftritt.

„Mama, sag eine Zahl!“, ruft Ünal zu Dilan hinunter.
„Sieben!“, ruft seine Mama zurück. Alles klar, also sieben Stufen weitergehen.
Lene und Ünal sind Vorschulkinder und für Vorschulkinder ist Zählen pippileicht.
Fast ganz oben, auf der drittletzten Stufe sind sie gelandet. Knallrot ist die und auf die Wand darüber sind Bäume gemalt. Hier setzen Lene und Ünal sich hin und warten auf die Trödelmamas.

„Und, hast du es geschafft?“, fragt Lene. Ünal öffnet seine Hand. Sie ist leer.
„Nein. Keine Rosine mehr übrig“, seufzt er.
„Ha! Bei mir schon“, freut Lene sich. Zwei weiße Rosinen kleben in ihrer Hand.
„Du darfst eine“, sagt sie großzügig. Beide stecken sich die warme, platte Rosine in den Mund und winken zu den Mamas hinunter.

Treppentage sind einfach die besten.

Vita

Bevor Jasmin Schaudinn Kinderbuchautorin wurde, ist sie erstmal im Zickzack durchs Leben gebraust. Als Leistungssportlerin, bei der Arbeit in der Kita, als Salsa-Lehrerin und auf einem Kreuzfahrtschiff hat sie all die Ideen gesammelt, die jetzt aus ihr heraussprudeln. Mit drei Teenies, Mann und Hund lebt und schreibt sie in Wuppertal.