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Tom-Sawyer-Land

Wolfgang Kaes über die Beueler Rheinwiesen.

Das Fleckchen Bonn am Ostufer des Rheins besitzt nicht mal einen Namen. Aber jeder Frachtschiffkapitän zwischen Basel und Rotterdam kennt es, weil sich hier, fern der Fahrrinne, ungefährdet ankern und übernachten lässt. Für Landratten hingegen ist die geografische Lage eher eine Frage der Perspektive. Der Uferstreifen liege op de schäl Sick, behaupten jene Bonner despektierlich, die sich möglichst selten über die Kennedybrücke gen Osten wagen. Die Bewohner des Combahnviertels widersprächen augenblicklich: Das hier ist die Sonnenseite des Lebens. Weil die Sonne bekanntlich im Westen untergeht und die Bettbreite des Rheins an dieser Stelle gut 450 Meter misst, lässt sich die Sonne so richtig viel Zeit, bis sie linksrheinisch hinter Opernhaus und Stadthaus versinkt.

Das namenlose Fleckchen Bonn liegt zwischen Ufer und Rheinaustraße, im Norden begrenzt von der Wolfsgasse, im Süden von der Combahnstraße. Am südlichen Ende gibt‘s einen gepflasterten Platz sowie einen feinsandigen Sandstrand, weiter flussabwärts eine große, wilde Wiese, noch weiter flussabwärts einen verwunschenen, nur über einen Trampelpfad passierbaren Dschungel, sofern man über genügend Fantasie verfügt und Mark Twain gelesen hat.

Wer dieses seltsam entrückte Fleckchen Bonn kennt, sich ihm von Süden nähert und Tango-Klänge vernimmt, wähnt sich nicht etwa im winterlichen Buenos Aires, sondern weiß, dass wir Sommer und Dienstagabend haben. Denn dann treffen sich hier seit Jahrzehnten Menschen, die den argentinischen Paartanz lieben. Der Platz wird zuvor säuberlich gekehrt, bunte Windlichter säumen die Tanzfläche, Dutzende Paare bewegen sich anmutig, Wange an Wange, und blenden die Welt aus. Es findet sich immer ein Tanzpartner, in argentinischer Tradition wechseln die Paarungen ohnehin nach drei Tänzen.

Weiter geht‘s, flussabwärts, zur Wiese, einst der Rangierbahnhof für die dampfenden, stampfenden Schmalspur-Züge, die Erze und Blei, Kohle und Kalk aus dem Westerwald und aus dem Bergischen Land zum Rhein transportierten und bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Bäuche der Frachtschiffe fütterten. Nachdem die Kräne und Rangiergleise demontiert waren und Gras über die Industriegeschichte wuchs, gastierte hier mal der berühmte Zirkus Flic Flac. Lange her. Aber bei den indigenen Anwohnern heißt die Wiese immer noch Zirkuswiese. Auch weil sich das Areal bis heute jeden Sommer in einen großen Zirkus verwandelt. Der Eintritt ist frei, das bunte Programm wechselt jährlich. Mal hat Brasiliens Capoeira Saison, mal Bodenakrobatik, mal balancieren junge Leute über Gummibänder, die sie zwischen den mächtigen Bäumen spannen. Unangefochtener Star unter all den begnadeten Artisten war eine Sommersaison lang – kein Mensch, sondern ein Hund, ein Border Collie, der mit seinen zweibeinigen Freunden Fußball spielte und das Leder routiniert mit der Schnauze köpfte. Spurtstark, sprungstark, mit beeindruckender Spielintelligenz gesegnet.

Immer wieder sonntags erschien eine Saison lang eine indische Großfamilie in der Arena: sieben Kinder, aber nur drei Fahrrädchen. Damit sausten die Kleinen wie in einer Arena um das letzte Stück Gleis herum, und der Rest der Rasselbande rannte hinterher. Alle drei Runden wurde gewechselt, wie beim Tango. Ohne Streit, ohne Diskussion, ohne ermahnendes Wort der Erwachsenen.

Wenn das Hochwasser kommt, so alle paar Jahre zwischen Dezember und April, dann sind Strand und Wiese und Dschungel für eine Weile verschwunden. Und wenn das Hochwasser wieder geht, dann wird aus dem Dschungel ein Freilichtmuseum. Das vom Strom hinterlassene Treibgut setzt die Kreativität der Menschen frei. Da entstehen in Windeseile Hütten und Paläste, Skulpturen und Fabelwesen. Und jetzt ist gar nicht mehr viel Fantasie vonnöten: Das hier ist Tom-Sawyer-Land. Und das da, das ist gar nicht der Rhein. Das ist der Mississippi.

Vita

Wolfgang Kaes, 1958 in der Eifel geboren, finanzierte sein Studium der Politikwissenschaft und Kulturanthropologie als Waldarbeiter, Hilfsarbeiter im Straßenbau, Lastwagenfahrer, Taxifahrer und schließlich als Polizeireporter. Er schrieb Reportagen für den Stern, die Zeit, das Zeit-Magazin und andere. Seit 2003 verarbeitet er seine journalistischen Recherchen auch zu Romanen im Genre Spannungsliteratur. Kaes war zuletzt zehn Jahre Chefreporter des Bonner General-Anzeigers, bevor er Ende 2020 entschied, sich künftig ganz dem Bücherschreiben zu widmen.