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Schwimmbad­pommes

Oliver Pautsch über das Freibad Heide in Solingen-Ohligs.

„Die Pommes im Heidebad sind echt die leckersten, Papa!“
Meine Tochter ist kaum zu verstehen, weil sie den Mund voll hat. Die Kleine hat sich getraut, vom Einer zu springen. Und dafür eine Belohnung bekommen.
Jetzt sitzen wir auf der Liegewiese, im Schatten eines großen Rhododendrons. Kinder in Badehosen klettern in den Ästen zwischen den Blättern herum. 
„Aber tut euch nicht weh!“, ist die Stimme einer Mutter zu hören.

Vor uns im Säuglingsbecken tapern o-beinige Zwerge durch das knöchelhohe, naja, nennen wir es Wasser. Ich überlege, ob auch ich im Windelalter durch das kleine runde Becken gekrabbelt bin. Meine erste Erinnerung an das Heidebad ist die Kinderrutsche am großen Becken. Ich bin wohl vierstellig die kleine Treppe hochgeklettert und ins Wasser gerutscht. Auch gern Kopf voraus, obwohl das verboten war. Die Sprungtürme weiter hinten, im zweiten Becken, wurden erst später interessant. Als wir mit halsbrecherischen Sprüngen versuchten, Mädchen zu beeindrucken. Natürlich ohne Erfolg, denn die hatten viel kunstvollere Figuren drauf. Dafür zogen wir uns immer wieder beeindruckend schmerzhafte Verletzungen zu, wenn wir bei dem angeberischen Kasperkram falsch auf die Wasseroberfläche knallten.

„Au, Kacke! Das war‘n Brenner“, schrien wir dann beim Auftauchen. Froh, dass man die Schmerzenstränen nicht erkennen konnte.

Von der Wiese aus sehe ich in der Ferne unsere beiden Jungs an den Sprungtürmen. Der Größere macht gerade einen gewagten Doppelsalto vom Fünfer. Ich bekomme eine Gänsehaut bei dem Gedanken, was dabei alles passieren kann. Kindheit und Jugend machen unbesiegbar, Elternschaft verletzlich. Neuerdings bekomme ich sogar immer öfter Höhenangst. Doch auf den Fünfer habe ich mich schon damals nie getraut. Der Dreier war immer das Höchste der Gefühle.

Das Heidebad, offiziell „Freibad Heide“, liegt im Naturschutzgebiet mitten im Bermuda-Viereck zwischen Wuppertal, Köln, Düsseldorf und Duisburg, direkt an der A3. Seit ich plantschen kann, geisterte jedes Jahr spätestens ab März das Gerücht durch die Stadt, das in der Ohligser Heide versteckte Schwimmbad werde bald geschlossen.

„Naturschützer wollen das Heidebad dichtmachen. Vielleicht schon dieses, aber nächstes Jahr auf jeden Fall!“, wusste immer wieder irgendein Schlauberger. Solche Gerüchte verliehen unseren Besuchen immer ein leicht wehmütiges Gefühl. So, als wäre jeder Besuch der allerletzte, bevor die Solinger Bädergemeinschaft das schönste Schwimmbad der Region, mitten im Wald gelegen, einfach schließen würde.

Das ist zwar bis heute nicht passiert, doch nun treibt mich eine neue Wehmut um: Wie lange wird meine Tochter noch mit mir im Wasser herumtollen? Nur diesen letzten Sommer? Vielleicht den Nächsten? Und wie lange kann ich noch ihr Held sein?
Für die Jungs bin ich ja jetzt schon Luft.
Plötzlich kommt mir eine Idee und ich stehe auf. „Komm mal mit.“
„Aber mit vollem Bauch soll man nicht ins Wasser.“ (Eine Weisheit ihrer Mutter.)
„Du musst nicht mit rein. Nur zusehen.“
„Wobei?“, fragt sie, nun neugierig geworden.
„Ich springe vom Fünfer. Zum ersten Mal im Leben!“
Sie weiß, dass ich mich das noch nie getraut habe und reißt die Augen auf.
„Echt? Warum?“ Eine gute Frage. Auf die ich keine Antwort habe.

Weil ich angeben und ihr Held sein will? Weil das Heidebad nach dieser Saison vielleicht für immer schließt und ich es dann hier nie vom Fünfer geschafft habe? Weil ich mit meinen Jungs gleichziehen will? Ich weiß es nicht. Aber sie: „Du willst auch Pommes als Belohnung, was?“

Ich muss lachen, wir haben die Sprungtürme fast erreicht. Der Fünfer ragt mit jedem Schritt höher vor mir auf. Ich schlucke trocken. Und das Lachen bleibt mir endgültig im Halse stecken, als meine Tochter verlangt: „Schwimmbadpommes gibt es aber nur, wenn du einen Köpper machst!“

Vita

Oliver Pautsch, geboren 1965 in Hilden, wo er auch heute lebt, studierte an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf Germanistik und Medienwissenschaften und arbeitete parallel dazu in verschiedenen Berufen bei Film- und Fernsehproduktionen, bevor er mit dem Schreiben von Drehbüchern begann. Seit 1994 arbeitet er als freier Autor von Drehbüchern, Theaterstücken und Kurzgeschichten, vornehmlich im Bereich Psychodrama, Thriller und Krimi. Seit 2003 schreibt er Kriminalromane und Sachbücher, vornehmlich für Kinder und Jugendliche. Der Kurzfilm „Ein einfacher Auftrag“ nach Pautschts Geschichte und Drehbuch wurde 1997 mit einem der begehrten Student Academy Awards der Academy of Motion Picture Arts and Sciences ausgezeichnet. Außerdem arbeitet er seit 1986 als Spezialist für Transporte von Klavieren und Flügeln.