Textstellen

Schwarz-Pappel

Jürgen Nendza über eine rund 200 Jahre alte Schwarz-Pappel vor der Antoniuskapelle in Würselen-Pley.

Ein eigener Breitengrad, die Äste überneigt
und ausladend, die Seilverspannung über Kreuz:

ein Labyrinth der Festigkeit, mit Zugkräften
vergabelt und Jahrhunderträndern

wie ins Licht gebogen: Knospenharz,                                              
es fliegen Bienen an fürs Klebewerk,

fürs Abdichten von Ritzen, Spalten. Später
kämmen Sommertriebe die sanierte Krone,

als dunkelsüße Wolke ruht sie
auf dem knappen Stamm: mondfahl

die Borke, wulstig, eingeknöchert,
mit einem Hohlraum ins Verborgene: Du

hörst darin das Knorren der Hornissen, siehst
im Blindholz Schattenbilder, das Material

aus Tränen in der verdeckten Konstruktion.
Ein Steinkreis liegt um ihren Stamm.

Kinder springen darin auf
und ab und wachsen schnell.

Vita

Jürgen Nendza, geboren 1957 in Essen, lebt in Aachen und Köln und verfasst hauptsächlich Lyrik. Seine Gedichte wurden mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Lyrikpreis Meran und dem Christian-Wagner-Preis.