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Rhein­kilometer 755,1

Jutta Profijt über die Rheinfähre zwischen Meerbusch-Langst und Düsseldorf-Kaiserswerth.

Das Wegstück mit dem schlechtesten Straßenbelag liegt genau vor mir. An den Rändern schauen die alten Kopfsteine hervor, Beton und Asphalt bedecken die Mitte. Die Bremsen meines Fahrrads kreischen, aber als die stählerne Rampe der Fähre mit einem dumpfen Ton auf den Beton knallt, kann ich die Räder rollen lassen. Innerhalb kürzester Zeit ist das Schiff wieder unterwegs, dreht schräg gegen den Strom und unternimmt die wenige Minuten dauernde Fahrt. Und dann, genau in der Flussmitte, überkommt mich dieser Moment absoluten, ungetrübten Glücks. Jedes Mal.

Dass der Rhein als Transportweg seine Anrainer von der Schweiz bis zur Nordsee verbindet, ist auch hier offensichtlich. Mussten die Flussschiffer zu Zeiten der Römer gefährliche Abschnitte noch auf dem Landweg umgehen, liegt der moderne Wasserlauf wie frisch geplättet da. Die Frachter, die sich aus dem Uerdinger Bogen in den Blick schieben, haben seit Verlassen der niederländischen Seehäfen knapp dreißig Stunden hinter sich gebracht, weitere sechzig sind es bis Basel. Die Gemächlichkeit der Vorbeifahrt bildet einen krassen Gegensatz zum Lärm der Raserei, der von der nahen Autobahnbrücke herüberweht.

Bedauerlich, dass in der Hauptsache Waren verkehren auf dem über zwölfhundert Kilometer langen Strom. Flusskreuzfahrer legen Stippvisiten ein, schwenken Fotohandys, aber meist reicht die Zeit kaum für einen Kaffee, geschweige denn einen Schwatz. Kleine Boote würde ich mir wünschen, die Reisende bequem voranbringen, doch Kost und Logis verweigern. Das bekämen sie in den Orten, die sie besuchten, bei den Menschen, die sie träfen. Zum Beispiel hier, wahlweise am rechten oder linken Ufer, in den Cafés, Restaurants und an der Campingplatz-Bar, die ihre Gäste auf rheinisch-herzliche Art begrüßen. Ein Gegenentwurf zum globalen Ortsveränderungstourismus, der Fotomotive statt Begegnungen bietet.

Die Barriere, die der Rhein für die Menschen dies- und jenseits des Stroms bedeutete, wird hier seit Jahrhunderten überwunden, vermutlich schon vor Anlage, Blüte und Niedergang der Kaiserpfalz. Von der Flussmitte bietet sich der beste Blick, besonders in der Abendsonne. Mit welchen Ängsten oder Hoffnungen mögen unsere Vorfahren den Fluss gequert haben? Wie viel Zoll mussten sie an dieser Stelle für ihre Waren entrichten, wo warteten sie, wenn die Fähre wegen widrigen Wetters die letzten Hundert Meter bis zum Ziel nicht überbrücken konnte? Ist es der Verlust des festen Bodens unter den Füßen oder das Zwischen-zwei-Welten-sich-Befinden, das die Gedanken aus dem Käfig alltäglicher Gegenwart befreit?

Der Rhein ist Lebensader und Sorgenkind, wenn der Wasserstand in Dürresommern sinkt und ebenso, wenn Hochwasser die Menschen an seinen Ufern gefährdet. Und er ist Identifikationsmerkmal. Rheinländer oder Niederrheiner, bei Kilometer 755,1 kann man beides sein.

Vita

Jutta Profijt, geboren 1967 in Ratingen, lebt ohne Auto und Fernseher, aber mit ihrem Mann am Niederrhein. Neben dem Schreiben baut sie in ihrem Selbstversorgergarten Obst und Gemüse an, oder erkundet Europa im Nachtzug, per Fahrrad und zu Fuß. Schokolade mag sie ab 85 % Kakaogehalt, Spargel nur mit Butter. Ansonsten hält sie sich selbst für niederrheinisch unkompliziert.