Textstellen

Räder im Wind

Enno Stahl über den Windpark Neuss.

Von Winden umtost, es ist Windstärke fünf, Windstärke acht, es ist Orkan, Windsmeute, Windsbeute, Windsbraut, die Räder rasseln, sausen, Vorsicht Eiswurf, welches Gigantenkind bläst dagegen und pustet die schwarzblauen Wolken über den Himmel, wirft dich fast um mit einem Hauch, strebt irgendwohin gegen Osten, und du musst durch diese Felder, es ist ein Auftrag oder auch nur eine Notwendigkeit, etwas, was zu tun ist, bei jedem Wetter, ob Regen oder Schneefall, aber jetzt ist Sonne, der Himmel wasserblau, von Mobilitätsstreifen durchzogen = Schwangerschaftszeichen, der Himmel ist nicht unschuldig, so wenig wie Wald und Wiesen, und die Räder rasseln, sausen, werfen ihre Windschatten über das Feld, diese megalangen Schatten, daneben stehst du ebenfalls in Übergröße, selbst die beiden kleinen Hunde haben das Ausmaß von Moschusochsen, die einstmals hier gegrast haben mögen, als noch keine Räder rasselten, der Mensch noch nicht siedelte, die Landschaft nicht urbar, aber vielleicht kreisten auch damals schon die Bussarde darüber, die Bussarde mit ihren heiseren Schreien, die sich höher und immer höher schrauben, dreihundert Meter, fünfhundert Meter, tausend … während dein Blick über zivilisierte Flächen streift, abgezirkelte Äcker, ausgemessene Weiden, dazwischen ein Waldstück, so klein, dass es nur ein paar Kaninchen vor Verfolgung schützt, immerhin ein Blick, so weit wie übers Meer, das Meer aus Grün, so kleine Gestalten am Horizont, die nächsten Häuser nicht zu sehen, wenn man absieht von dem einen Gehöft, Kürbisanbau und Bio-Eier-Produktion, ein flaches, wogendes, grünendes Meer, die nächsten Menschen dort hinten so winzig, niemand sieht es, niemanden stört es, wenn du den Hosenlatz öffnest und dich erleichterst, keiner nimmt Notiz davon, als Letztes die großen Räder, denn sie denken nicht, sie nehmen nichts wahr, sie arbeiten klaglos im Dienst der Menschheit, sie sind stumm wie Fische, nur weniger lebendig, dabei höchst präsent und immer da, irgendetwas scheint in ihnen zu sirren, zu brummen, das Ganze steht unter Vibration, vielleicht also doch Leben, vielleicht ein Leben von anderer Art, eventuell stehen sie im Austausch, vermutlich kommunizieren sie – in einer Sprache, die uns noch nicht bekannt, der Maschinensprache, wahrscheinlich sprechen längst alle Maschinen untereinander, miteinander, die Weltsprache der Maschinen, während du noch durch die Felder flanierst und denkst, es wären Felder, während du nichts von alldem ahnst, beobachten dich die Räder und warten nur auf den Moment, sie belauern dich und wissen viel mehr von dir als du von ihnen, wir wissen nicht, was sie planen, wir wissen nicht, was als Nächstes auf dem Programm steht, ein neues Weltzeitalter womöglich, das weder dich noch Hunde braucht, das auch keiner Wiesen und Äcker bedarf, keiner Gehöfte, Kürbisse und Eier sind dann aus der Mode und Landschaft als solche unnötig, die Kaninchen längst verschollen, die Bussarde geschreddert von den Rädern, und was ist mit dem Himmel? Nun, der Himmel, der ist noch da oder auch weg, es kommt darauf an, es steht indes zu befürchten, dass es egal ist, einfach ganz egal …

Vita

Enno Stahl, geboren 1962 in Rheinhausen, wuchs auf in Moers am Niederrhein und studierte Germanistik, Philosophie und Italienisch in Aachen, Köln, Florenz und Siegen und wurde 1997 zum Dr. phil. promoviert. Er veröffentlicht Romane, Prosa, Lyrik, Essays und Kritiken und ist Herausgeber diverser Bände zur älteren und gegenwärtigen Literatur- und Kulturgeschichte. Er lebt in Neuss.