Textstellen

Oswaldstraße

Jenny Bünning erzählt bewegend von einem exemplarischen Schicksal.

Ich weiß nicht, was ich gedacht habe, was anders sein würde.

Jeden Morgen habe ich beim Blick in den Spiegel gehofft, dass es nicht mehr zu sehen sein würde. Damit es mich nicht dauernd daran erinnert. Damit ich es endlich vergesse. Damit ich so tun kann, als wäre es nie passiert.

Jetzt ist es weg. Ich trete näher unter das Badezimmerlicht, bewege mich zu einer Seite, zur anderen, drehe mich, halte den Kopf schräg. Nichts. Es ist verschwunden. Sogar diese letzte Stelle über der linken Augenbraue, die von allen die hartnäckigste war. Alles sieht wieder aus wie früher.

Ich bin keine von diesen Frauen. Da war ich mir immer sicher. Wir sind auch keins von diesen Paaren. Natürlich gibt es manchmal Streit. Wer streitet nicht? Trotzdem hätte ich nie für möglich gehalten, dass mir so etwas zustoßen würde.

Ich habe es meiner Mutter nicht erzählt. Auch nicht meiner Schwester oder meinen Freundinnen. In den ersten zwei Wochen bin ich ihnen aus dem Weg gegangen, eine Verabredung zum Essen habe ich abgesagt, spontanes Vorbeikommen, wie ich es manchmal gerne mache, gab es nicht. Ich wusste nicht, was ich hätte sagen können. Es war noch zu früh. Ich wusste, ich würde nicht gut lügen können.

Inzwischen habe ich darin Routine. Ich bin gegen eine Schranktür gelaufen, total dumm, ich weiß, ich habe nicht aufgepasst, tollpatschig war ich schon immer, wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, heißt es nicht so? Anfangs habe ich an Fremden geübt, dann an Bekannten und der Nachbarin von gegenüber, bis ich gut genug war, damit meine Familie und meine Freundinnen mir glauben.

Sie sollten nicht denken, dass er so ein Mann ist. Sie sollten nicht denken, dass ich so eine Frau bin.

Jetzt ist nichts mehr zu sehen. Niemand wird mich mehr darauf ansprechen. Alles könnte wieder wie vorher sein. Das ist es nicht. Weil ich es nicht bin. Ich erkenne es daran, dass ich Angst habe. Vor Kleinigkeiten. Bei Geräuschen zucke ich zusammen. Wenn ein Auto vorbeifährt. Wenn ein Fahrrad klingelt. Oder der Postbote. Einmal habe ich deshalb sogar etwas fallen lassen. Eine Tasse. Sie ist auf dem Boden zersprungen. Ich musste die Scherben zusammenkehren. Jedes Mal kneife ich die Augen fest zusammen. Um nichts sehen zu müssen. Und danach klopft mir das Herz.

Es wird nicht wieder passieren. Natürlich nicht. Das hat er versprochen. Es wird nicht wieder passieren.

Ich schäme mich. Dafür, dass ich manchmal Ewigkeiten auf der Toilette sitzen bleibe, nur, um nicht raus gehen zu müssen. Dafür, dass ich mich schlafend stelle, wenn er später ins Bett kommt. Besonders dafür, dass es überhaupt passiert ist, dass ich es nicht verhindert habe oder mich gewehrt, dass ich ihn jetzt nicht verlasse, dass ich ihm nicht ins Gesicht sage, dass er zur Hölle fahren soll, dass ich nicht einfach meine Sachen packe und gehe, weil ich keine Frau bin, die sich von ihrem Mann schlagen lässt.

Aber am meisten schäme ich mich für meine Angst. Sie ist da. Wenn ich seine Stimme höre. Seine Schritte. Seine Schlüssel an der Tür. So wie jetzt.

 

Am 1. Oktober 2023 wurde Alia auf der Oswaldstraße im Duisburger Stadtteil Vierlinden von ihrem Ehemann brutal ermordet. Ihr kleiner, damals 17 Monate alter Sohn überlebte schwerverletzt.

In Deutschland erlebt alle 4 Minuten eine Frau Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner. Alle zwei Tage wird eine Frau durch ihren (Ex-)Partner getötet. (Quelle: UN Women Deutschland: https://unwomen.de/gewalt-gegen-frauen-in-deutschland/?gad_source=1; Zugriff: 22.08.2024).

Vita

Jenny Bünnig hat Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte studiert und über melancholische Zeit- und Raumerfahrung promoviert. Eine ihrer Kurzgeschichten war 2012 einer der Siegertexte beim Schreibwettbewerb des btb-Verlages. 2013 wurde sie mit dem dritten Moerser Literaturpreis ausgezeichnet. 2015/2016 war sie Teilnehmerin der Romanwerkstatt der Bayerischen Akademie des Schreibens/des Literaturhauses Münchens. Zudem schreibt sie unter verschiedenen Pseudonymen für Piper.