Öd, leer, schön
Christoph Wenzel über einen Platz ohne Namen in Aachen-Burtscheid.
Hier ist noch ein Platz für dich frei, setz dich oder nimm den Stehplatz, das Sonnendeck. Dieser Ort führt ein Schattendasein, obwohl es hier kaum einen Schatten gibt. Du stehst im Grunde immer in der voll ausgeleuchteten Arena. Wenn das hier kein Schauplatz ist, dann weiß ich auch nicht. Ein Schauplatz, gänzlich ungeeignet für Verbrechen oder Deals, alles ist hier exponiert, keine Ecke, keine Verstecke. Ein Schauplatz, auf dem nichts passiert, obwohl er die perfekte Bühne bietet. Kaum jemand spielt hier oder streitet oder küsst. Dabei gibt es exquisite Sitzplätze in erster Reihe, Hocker aus Waschbeton, mit bestem Blick aufs „Geschehen“.
Sieh dir an, was da ist und was da eben nicht ist.
Viel lässt sich nicht sagen. Der Platz stammt wie die ganze Siedlung und der siebenstöckige Wohnblock, dessen Vorhof er bildet, aus den 60er-Jahren. In dieser Zeit galt es, schnell, viel und günstig Wohnraum zu schaffen. Vorher waren dort Wiese und Acker. Dies ist der vermutlich höchste Punkt des Aachener Stadtteils Burtscheid, von den Balkonen des Wohnblocks blickt man nach unten auf den Platz und nach vorn in die Niederlande und nach Belgien. Der Platz selbst wird dominiert von Waschbeton, eingefasst von schienbeinhohen Pollern, ebenfalls aus: Waschbeton. Das klingt hart und einfallslos – und, machen wir uns nichts vor, so sieht es beim eiligen Vorübergehen auch aus: öd, leer, leblos – im Grunde ein Ärgernis, versiegelte Fläche. Aufenthaltsqualität: Fehlanzeige. Menschen kreuzen den Platz nur, weil er auf dem Weg liegt oder sie zum anliegenden Schnellimbiss wollen oder zum benachbarten Friseursalon oder weil sie dort wohnen. So wirkt es.
Doch dieser Platz ist nicht völlig ohne Reiz. Zwei in den hellen Waschbetonboden eingelassene dunkle, geschwungene Linien, wie ein Fragezeichen mit kleinem Kopf und großem Bauch, verbinden den kleineren Nordteil des Platzes, dort ungefähr mittig eine Platane, der einzige Schattenort, mit dem größeren Südteil. Dieser bildet das Entrée zu dem hoch aufragenden Wohnblock aus demselben Baujahr (1964). Hier nehmen vier konzentrisch angelegte Ellipsen den Bauchbogen des Fragezeichens auf, die Fläche formt gleichzeitig einen flachen Trichter. In dessen Mittelpunkt ein Waschbetonkübel, eingefasst von einem Waschbetonbeet. Früher gab es dort wohl einen Brunnen. Wann er zuletzt in Betrieb war oder ob überhaupt, ist nicht zu eruieren. Bilder davon sind nicht auffindbar. Man darf sich ausmalen, wie diese Waschbetonwüste als gemeinte Oase ausgesehen haben könnte. Die Bögen und Ellipsen sind segmentiert durch Linien aus eingelassenen Pflastersteinen, vielfach mit Teer geflickt. Sie bilden einen Strahlenkranz, der vom ehemaligen Brunnen ausgeht und den gesamten Platz überzieht. Dadurch entstehen Setzfelder wie auf einem Brettspielbogen – aber hier würfelt niemand, rückt niemand vor oder zurück. Im Luftbild erst zeigt sich das erstaunlich einleuchtende Gestaltungsprinzip des Platzes: Er bedient – gleich mehrfach – das Prinzip des Goldenen Schnitts und der Fibonacci-Spirale. Damit steht dieser Ort auf einmal in einer ganzen kunstgeschichtlichen Tradition. Sein Konstruktionsprinzip war schon im sechsten Jahrhundert v. Chr. bekannt und gilt als eine Art Naturgesetz der Ästhetik, der Schönheit. Dieses Gestaltungsprinzip ist von der Natur abgeschaut (von den Ammoniten etwa oder der Anordnung der Blätter einer Rosenblüte), es findet sich in Bildkompositionen der Malerei, sogar in der Musik und im Buchdruck. Es heißt, diese Proportionen würden als besonders harmonisch empfunden.
Und? Spürst du sie jetzt auch, die Harmonie dieses Ortes? Begleitet von Altglascontainern und im Angesicht einer Sparkassenfiliale? Nein? Nein! Der Platz ist ein kleines Faszinosum, er entspricht nicht (mehr) unseren Vorstellungen eines schönen, lebendigen, sich organisch in seine Umgebung einfügenden Platzes, auf dem man sich gerne aufhält. Vielleicht tat er das noch nie. Doch gerade in diesem Widerspruch von offenkundigem Gestaltungswillen und der spürbaren Trostlosigkeit strahlt er seinen eigenen spröden Charme aus. Vielleicht eröffnet just diese Kluft eine Projektionsfläche, macht den Platz gleichsam zur tabula rasa und zur tabula non rasa – zu einer unbeschriebenen und gleichzeitig bereits beschriebenen Seite. Er hat Charakter und ist gleichzeitig gesichtslos, er gehört zum Alltag und ist gleichzeitig außerordentlich trostlos. Die konzentrischen Beinahe-Kreise, diese Orbits – sie sind sowohl die Höllenkreise wie die Terrassen des Läuterungsbergs als auch die himmlischen Sphären – wie bei Dante. Himmel und Hölle, ein Drama, eine Komödie, Kinderspiel und bitterer Ernst. Hier kann man schmoren, geläutert werden und schließlich schweben … oder man holt sich einen Imbiss, lässt sich frisieren und bringt anschließend das Altglas zum Container. Hosianna!
Nun: Zeige mir einen schöneren Platz in der Stadt! Du wirst keinen finden.
Übrigens: Dieser Platz hat keinen Namen. Denk dir einen aus. Du darfst ihn taufen.
Vita
Christoph Wenzel, geboren 1979 in Hamm/Westf., lebt in Aachen, schreibt Lyrik, Essays und für das Radio. Verschiedene Auszeichnungen: u.a. Alfred-Gruber-Preis beim Lyrikpreis Meran, Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium, Förderpreis des Landes NRW, Dresdner Lyrikpreis. Er ist Redakteur des dt.-ndl.-fläm. Lyrikmagazins TRIMARAN, Mitbegründer des [SIC] – Literaturverlags, Herausgeber von Anthologien mit deutscher und niederländischsprachiger Gegenwartslyrik sowie Kurator der Instagram-Lyrikanthologie „Flusslaut".