Textstellen

Martinstraße 45.64.95.97

Susanne Goga über eine gewöhnliche und doch besondere Straße in Mönchengladbach.

Eine ganz gewöhnliche Straße, nicht lang, nicht kurz, alte Häuser, neue Häuser, ein bisschen Grün, ein bisschen sozialer Wohnungsbau, ein bisschen Gewerbe, ein Kindergarten. Und doch ist diese Straße mehr – ein Speicher des Vergangenen, ein familiärer, ganz persönlicher Erinnerungsort.

Nr. 45 ist die Freundin, die bei ihrer Oma lebte und darum Freiheiten genoss, Partys in der Küche feierte, die Jahrzehnte später unvergessen sind. Die Freundin ist weg aus meinem Leben, der Ort jedoch geblieben. In der Erinnerung eines Menschen wird das Alltägliche besonders.    

Nr. 64, wo mein Vater wohnte, als er noch allein war, fremd im Rheinland nach dem Krieg und der Gefangenschaft, die sein Leben in vorher/nachher teilten. Ein rotes Backsteinhaus, das ich nie betreten habe. Ich weiß nicht einmal, wie lange er dort wohnte und bei wem. Antworten gibt es keine mehr.

Dann der Spielplatz, ein kleines Dreieck, Sand, Rutsche, Klettergerüst aus Metall, drumherum Knallerbsensträucher – nur knallen, nicht essen! –, dort parken heute Autos. Nur noch ein Bild im Kopf der Kinder, die dort spielten.

Nr. 95, roter Klinker, hier wohnte meine Oma. Tri Top Mandarine und Herrentorte vom Konditor, freitags baden, während Mama ihr den Hausflur putzte. Oma im Sessel, gleich neben der Tür, wie sie auf uns wartete, manchmal im Dunkeln, dann ging es ihr nicht gut.

Nr. 97, nie gestrichen, nie fassadenverschönert, im Graubraun der Gründerzeit, mit grüner Tür. Ferne Bilder, Oma wohnte nur bis 1970 dort. Toilette im Flur, dahinter die Tür zum Hof, hohe Mauern, Beete, Bäume und Tante Wolters, die eine Birne an einer Schnur zu mir herunterließ. Kindheit, kondensiert in einem Bild. 

An Samstagen Rollschuh laufen auf der Straße – wenn der Wind günstig stand, wehte Fußballjubel vom Bökelberg herüber, ein lautes Raunen, viele Kehlen, ganz nah und unsichtbar zugleich.

Das Echo meiner Mutter, Zimmer unterm Dach, weitab der Eltern, bebende Kellermauern damals. Aber auch ihr Reich, wo sie für sich sein konnte, fernab der engen Wohnung, die sich die Eltern mit der Nachbarin teilten. Unterm Dach juchhe, wie sie es nannte.

Was wird aus dem Geschehenen? Zeugt ein Ort von dem, was dort geschah? Ist die Erinnerung nur in mir oder auch da draußen in der Welt, auf jener Straße, in jenen Mauern, dem Asphalt, dem Fenster, aus dem die Birne damals schwebte? Lebt mein Vater noch in jenem roten Haus, hat etwas von ihm darin überdauert? Atmet meine Mutter noch in Nr. 97, sitzt ein Hauch von Oma dort in Nr. 95, den Blick zum Fenster?

Vita

Susanne Goga, geboren in Mönchengladbach, lebt und schreibt am, aber nicht über den linken Niederrhein. Er ist für sie Heimat, die sie immer wieder neu entdeckt. Städte und Landschaft schenken ihr Ruhe und Inspiration, um literarisch in andere Zeiten und Länder zu reisen.