Textstellen

Kiesel am Rhein

Ulla Hahn über Monheim und ihr Elternhaus, das heute ein Hort für Literatur ist.

Wohin zuerst? Das fragte ich mich, als ich nach langen Jahren, Anfang des 21. Jahrhunderts, für eine Lesung aus Das verborgene Wort, in meine Heimat zurückkehrte: nach Monheim.

Zuerst ging es an den Rhein. Rheinkilometer 707. Seit Kinderzeiten mein Zufluchtsort. Ja, sie war noch da, die „Großvaterweide“, und die Kiesel waren noch da, die „Buchsteine“, aus denen ich meine ersten Geschichten gelesen hatte. Auch das Böötchen war noch da, die „Piwipp“, Kreuzfahrt auf die andere Rheinseite nach Dormagen.

Kiesel am Rhein

Ins Verhör nimmt dich
der schweigende Stein
in deiner Hand

So viel Gewesenes
Jetzt und Vorbei

All die Linien
versunkenen Lebens
aufgeweckt in deinen Augen

Warten auf deine Antwort

Alsdann führte mich der Weg durch die Altstadt, vorbei an Marktbrunnen und Gereonskirche, durch den Bogen des mittelalterlichen Schelmenturms, in die Neustraße 2. Ja, da stand sie noch, die Hälfte vom roten Backsteinhaus, in der ich aufgewachsen bin, zeitweilig mit zehn Personen auf knapp 75 Quadratmetern. Umgeben von Neubauten, einem Hochhaus sogar. Aber das kleine Haus hatte den Zeiten getrotzt. Bewohnt wurde es nicht mehr.

Die Lesung war der Beginn einer wundersamen Verwandlung. Mit meiner Liebe zur Sprache und Literatur war ich aus dem kleinen Haus in der Neustraße herausgewachsen. Dankbar für alles, was mir mein Leben bislang möglich gemacht hatte, war ich zurückgekommen. Und nun wollte ich etwas von dem Glück, das ich erfahren hatte, zurückgeben.

Lange wurde die Idee eines Museums diskutiert, Thema: ein Arbeiterhaushalt Anfang der Fünfzigerjahre, mit Plumsklo und Zinkbadewanne im ehemaligen Schweinestall. Eine reizvolle Idee, der ich dennoch zögerlich gegenüberstand. Mein Sinn war auf etwas Aktiveres, Nützliches gerichtet.

Denn dass dieses kleine Haus den Zeiten standgehalten – sich sogar verdoppelt hatte (die Stadt hatte die andere Hälfte des Doppelhauses dazugekauft) –, ist doch selbst ein Stück lebendiger Poesie! Und genauso wird es heute genutzt, mein Elternhaus, das Ulla-Hahn-Haus. Praktisch und fantasievoll zugleich: ein lebendiger Ort für lebendige Begegnungen – über soziale und familiäre und ethnische Grenzen hinweg. Wo insbesondere Kinder und Jugendliche Freude am eigenen Umgang mit der Sprache entwickeln, ihre Kreativität und Phantasie, aber auch mithilfe engagierter Mitarbeiter*innen ihre Persönlichkeiten stärken können.

Doch ganz vom Tisch war die Museumsidee nicht. Die Verwandlungen gingen weiter. Der alte Holzschuppen, mein Arbeitsplatz von etwa 1954 bis 1965, wurde zu „Hillas Leseschuppen“. Wie damals mit einem alten Küchentisch, einem Stuhl, zwei Bücherbrettern, einer Glühbirne und einem Öfchen. Offen für alle Besucher des Ulla-Hahn-Hauses, die ein großartiges Video-Audiobuch mit vielen Fotos in meine Welt der Fünfziger- und Sechzigerjahre führt. Und die herzlich eingeladen sind, nachher im anliegenden „Garten der Poesie“, wo nicht nur Blumen, sondern auch immer neue Gedichte sprießen, zu verweilen. Oder mit einer kleinen Broschüre auf den Spuren des „Verborgenen Worts“ aufzubrechen zu einem Gang an den Rhein: „Lommer jonn!“

Vita

Ulla Hahn, geboren 1946 in Brachthausen, wuchs im Rheinland auf. Das ehemalige Elternhaus der Schriftstellerin ist heute ein städtisches Literaturhaus für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Die promovierte Germanistin war Lehrbeauftragte an den Universitäten Hamburg, Bremen und Oldenburg, anschließend bis 1989 Literaturredakteurin bei Radio Bremen. 1994 hatte sie die Heidelberger Poetik-Dozentur inne. Ihr lyrisches Werk wurde u.a. mit dem Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Für ihren Roman „Das verborgene Wort“ erhielt sie den Deutschen Bücherpreis.