Textstellen

Kastanien­schatten

Esther Kinsky über das Gut Sülz in Oberdollendorf.

Ich ging in Oberdollendorf zur Grundschule. Mitte der sechziger Jahre, eine harte Zeit für Kinder. Fehlende Gehsteige, donnernde Lastwagen, unzählige Baustellen. Die Republik im Aufschwung, der wirtschaftliche Erfolg ließ sich an den Verkehrsopfern ablesen.

Der Verkehr machte den kürzesten Schulweg fast unpassierbar, und als ein Kind aus unserer Klasse vor dem Süskindhaus, dem Wohnhaus einer ermordeten Gerberfamilie, wo jetzt etliche Flüchtlingsfamilien aus dem „Osten“ lebten, schwer verunglückt war, nahmen wir einen längeren Weg über stillere Straßen. Wir gingen in größeren Gruppen, nacheinander bogen die Kinder in ihre Häuser oder Gassen ab. Mein Haus kam zuletzt. Dieser Schulweg führte vorbei am Gut Sülz, einem Weingut, das wie ein verwunschenes Schlösschen in einer Beuge der Weinberge lag, ein weißes Haus mit einem großen Park, den wir der Kastanienbäume wegen vor allem im Herbst aufsuchten. Wenn wir nach der Schule im Park Kastanien sammelten, tat sich manchmal eine Nebentür auf und ein Mann mit gerötetem Gesicht kam heraus, um uns unter Gebrüll zu verjagen. Der Mann war wie ein Kellner gekleidet – schwarze Jacke und Hose, ein weißes Hemd, und in meiner Erinnerung trug er sogar eine Serviette über dem Arm, aber ich glaube heute, dass meine Erinnerung mich da trügt. Einmal warf er Kastanien nach uns. Trotz des Kellners gingen wir immer wieder in den Park, er war von der Straße aus leicht zu betreten. Die Kastanienbäume rauschten im Wind, und zwischen den leise segelnden gelben Blättern fielen unentwegt stachlige Kastanienkugeln mit dumpfen Aufprall ins Gras und platzten auf. Die glänzenden Kastanien vom Gut Sülz erschienen mir wie eine unter Gefahren errungene Beute, nach der wir Kinder gierig waren, obwohl wir kaum wussten, was wir damit anfangen sollten. Die Bastelmöglichkeiten waren bald erschöpft, schließlich wurden die matt und schrumplig gewordenen Kastanien in ein Wildgehege gebracht. Doch wir ließen keinen Tag aus, solange die Kastanien fielen. Die Erwartung, jeden Moment den Kellner brüllend aus der kleinen Seitentür treten zu sehen, machte die Vorstöße in das fahle Herbstgras unter den Bäumen aufregend und gewagt.

Das Gut Sülz zog mich immer an, zu jeder Jahreszeit. Ich sah das Haus auf dem Schulweg nie geöffnet, immer standen Gartenstühle zusammengeklappt auf der Veranda, still lag der große Park am Fuß der Weinberge, wie in deren Arm geschmiegt, ein Inbegriff von Geborgenheit, menschenleer. Hinter dem Park führte ein Weg in die Weinberge hinauf, den ich manchmal mit meinem Vater oder meinen Großeltern ging. Das weiße Haus rückte ferner, während wir aufstiegen, es lag dort unten inmitten der Bäume wie ein Märchenhaus. Von oben sah man einen Balkon mit grünem Geländer an der rückwärtigen Seite, und manchmal stellte ich mir vor, wie jemand von dort oben mich beim Kastaniensammeln unter den großen Bäumen sah. In die andere Richtung, weg von den Weinbergen, führte der Weg durch ein kleines Tal, an dessen Grund ein Bach floss. Die alten Häuser am Eingang des Tals hatten Blumengärten, wie es sie in der eher vorstädtischen und thujahungrigen Gegend an unserem Ende des Ortes nicht gab. In den Gärten wuchsen Margeriten und Rosen, Phlox, Rittersporn und Bartnelken, die meine Mutter im Unterschied zu meinem Vater Tausendschönchen nannte. Auf einem solchen Spaziergang, ich war vielleicht sieben oder acht Jahre alt, erzählte mir mein Vater von den Besitzern des Gut Sülz, einem jüdischen Ehepaar. Er war noch ein Kind, als sie weggingen. Für immer, fragte ich, und mein Vater sagte Ja. In aller Hast, bei Nacht und Nebel und voll Angst. Ich erinnere mich noch an die kleinen Staubwirbel, die ich während dieses Gesprächs auf dem sommertrockenen Weg bei jedem Schritt um meine Lieblingsschuhe aufsteigen sah. Das Gut Sülz blieb für mich Zeit meines Lebens einer der Orte, zu denen sich bestimmte Geschichten fügen, als warte das Haus darauf von Erzählungen bewohnt zu werden. Als Erwachsene später ging ich öfter dorthin, inzwischen war es ein freundlicher Ort, wie ein Buschenschank bei Wien, wo man den Wein von den umliegenden Weinbergen zum Tisch trug, es gab einfache Speisen an einer Theke, kein Kellner war in Sicht. Kinder spielten unter den Bäumen. Manchmal meinte ich, eines darunter zu sehen, das aussah wie ich selbst als Kind.

Vita

Esther Kinsky ist Autorin von Prosa, Essay, Lyrik und literarische Übersetzerin. Sie ist im Rheinland aufgewachsen, am Fuß der damals nördlichsten Weinberge von Europa. Das Rheintal und das Siebengebirge, das Bewusstsein des rheinischen Schiefergebirges als Boden unter den Füßen prägten ihre Wahrnehmung und ihr Verhältnis zur umgebenden Welt.