Textstellen

Im Auge des Drachen

Anselm Neft über die Nibelungenhalle am Drachenfels.

Ich betrachte das Foto, verlasse das Wohnzimmer meiner Mutter und stehe neben dem kleinen Jungen mit Pottschnitt. Er sitzt auf einem Esel, der bergan trabt. Die Sonne bescheint die Szene in der typisch orangenstichigen Farbsättigung von Fotos aus den 1970ern. Der Junge trägt eine kurze Lederhose und rote Sandalen, die er hasst, weil er Füße doof findet. Das weiß ich, weil ich der Junge bin oder war oder manchmal bin und manchmal war. Zumindest glaube ich, dass ich mich schon damals gefragt habe, warum Kinder auf Eseln reiten sollen, und ob die Esel sich das auch fragen. Zumindest ritt ich an diesem Sommertag auf einem Eselsrücken mit einer Reihe anderer Kinder den Drachenfels bei Königswinter hinauf. Ob ich vorher oder nachher in der Nibelungenhalle gewesen bin, weiß ich nicht mehr. Was ich weiß, ist, dass der Drachenfels im Siebengebirge allein schon wegen seines Namens meine kindliche Phantasie entzündete, und mehr noch die Nibelungenhalle. Von außen wirkte das graubraune Steinbauwerk wie ein gleichzeitig uralter und moderner Tempel, ein Objekt, das ich gerne von Playmobil gehabt hätte, auch wenn es weder zum Bauernhof noch zur Ritterburg oder zum Zirkus gepasst hätte. In ihrem Inneren erinnerte mich die Halle zunächst aber durchaus an meine wenigen Zirkusbesuche: Muffig und schäbig wirkte der Eingangsbereich, in dem mein Vater Tickets für uns löste. Dann betraten wir die Halle, die mich an eine runde Kirche erinnerte, nur dass die Bilder an den Wänden keine Heiligen, sondern Siegfried den Drachentöter, nordische Götter und Landschaften zeigten. Mein Vater erklärte mir, dass das Bodenmosaik die Midgardschlange darstelle, ein sagenumwobenes Vieh, das die ganze Welt der Menschen umschloss. Ich bemerkte, dass mein Vater gleichzeitig mit Faszination und Widerwillen sprach. Das war nun sehr interessant. Diese Halle mit ihren Bildern und der Schlange schienen etwas ganz Besonderes zu sein. Ich fragte meinen Vater, warum die Nibelungenhalle gebaut worden sei, und er sagte verächtlich: Sie behaupten, hier hätte Siegfried den Drachen getötet, aber das ist nur ein Märchen. Und sie ehren hier Richard Wagner und die Märchen vom starken Germanenvolk. Mein Vater schien mehr zu sich selbst zu sprechen, aber ich wurde immer neugieriger: Wer sind sie?, wollte ich wissen. Rassisten wie dieser Maler Hendrich mit seinem Bund, sagte mein Vater. Dann machte er eine wegwerfende Handbewegung. Du weißt ja noch gar nicht, was das ist. Ich sagte: Dann erklär es mir. Mein Vater sah mich nicht an, als er sagte: Rassisten glauben, dass es verschiedene Menschenrassen gibt und die eine besser ist als die anderen. Sie selbst zählen sich immer zur besten und edelsten Rasse, und diese muss rein gehalten werden und die anderen bekämpfen. Ich verstand immer weniger. Was sollte denn „rein halten“ bedeuten? Aber ich fühlte etwas Großes, Geheimnisvolles und Gefährliches, einen Gedanken, den man nicht denken soll, weil er krank machen kann. In meiner Familie galt mein Vater als krank. Ich wusste, dass mein Vater in einem Krieg gekämpft hatte. Und von meiner Mutter und meinen älteren Geschwistern wusste ich, dass Krieg sehr böse war. Das war natürlich spannend. Die Bilder in der Nibelungenhalle und die ganze Stimmung wirkten böse, spannend, voller Energie und dunklem Zauber.

Ich finde es schön hier, sagte ich und nahm die Hand meines Vaters, um ihn zu trösten. Sein Blick veränderte sich. Kurz wurde er weich, dann härter als vorher. Es ist Kitsch, sagte er und ließ meine Hand los, die nun sehr allein in der Luft hing. Für diesen Kitsch haben sie Menschen umgebracht. Wer sind sie?, fragte ich wieder. Aber mein Vater gab keine Antwort mehr. Stattdessen gingen wir lustlos durch einen kleinen, traurigen Zoo, in dem sie Echsen, Schlangen und Krokodile auf engstem Raum eingesperrt hatten, damit man sie gegen Geld angucken konnte.

Schließlich folgte ich meinem Vater durch einen dunklen Tunnel. Ich hatte etwas Angst, wollte aber kein Feigling sein. Dann traten wir hinaus ins Freie und fanden uns an einem verwunschenen, fels- und baumumschlossenen Ort wieder. Von jenseits des Gewässers sieht ein Drache aus Stein herüber – mitten in die Augen seiner Betrachter.  

Vita

Anselm Neft, geboren 1973 im Waldkrankenhaus in Bad Godesberg, verbrachte seine Kindheit in Wachtberg-Pech, seine Jugend in Bad Godesberg und sein Studium in Bonn, bevor er sich dann nach Berlin davonmachte. Heute lebt er als Schriftsteller und Publizist in Hamburgcund und betreibt dort den Literaturpodcast „laxbrunch“. In jedem Lebensalter war er fasziniert und verstört von der Nibelungenhalle am Drachenfels.