Textstellen

Hinter der Schranktür

Tanya Lieske über die Kerzenkapelle von Kevelaer.

Als das Handy in seiner Tasche plingte, gab es eine kurze Auseinandersetzung zwischen seinem Verstand und dem digitalen Kalender. Der Verstand zog den Kürzeren. Er trat seine Zigarette aus, murmelte etwas von wegen dringendem Termin und verließ das Rauchergrüppchen im Hof der Agentur.

Der 22. November kam pünktlich. Jedes Jahr, dachte er, als er die Autobahn nach Nordwesten vor sich hatte und die Ortsnamen bereits klangen wie Formeln aus einem Zauberbuch. Geldern! Issum! Winnekendonk! Als könne man damit eine jener Parallelwelten betreten, die ihm früher viel bedeutet hatten. Welten, die immer hinter einer Schranktür, hinter einem Spiegel lagen und in denen man Typen wie den verrückten Hutmacher treffen konnte.

Er schaltete die Verkehrsnachrichten ein. Sein Handy klingelte. Ann-Katrin ließ ihn wissen, dass flexible Arbeitszeiten nicht identisch seien mit kommentarlosem Verschwinden aus der Pause. Er nickte, als könne sie ihn sehen; bemerkte, wie die Landschaft sich öffnete unter hohen Windmühlenflügeln. Später wurden die Straßen schmaler. Weißgestrichene Zäune und renovierte Bauerngehöfte, blickdicht versteckt hinter Thujen, flogen vorbei. Die Stadt war gut ausgeschildert. Man musste sie nicht kennen, um sie zu finden. Nicht so gut, wie er sie kannte, obwohl er für immer fort war. Die Sache ist nur, etwas lässt man immer zurück, dachte er grimmig. Er kannte das, die schlechte Laune. Es war seine ganz eigene schlechte Laune On-Kevelaer-Approach. Oder jemanden. Jemanden lässt man immer zurück.

Er kannte die Schleichwege um die Parkplätze der Pilgerbusse herum. Er stieg aus, sah nach der Uhr und dem Licht. Er hatte noch Zeit. Das Licht musste sich ins Novembergrau verdichten. Dort hinein ragte die Basilika wie ein urzeitliches Reptil. Daneben duckten sich die Gnadenkapelle, die Kerzenkapelle. Alles war wie immer. Die drei großen Gasthöfe hingegen lagen verwaist. Jansens alte Metzgerei war nun eine trendige Slagerij mit Dosenpyramiden im Schaufenster. Einige wenige Geschäfte für Pilgerzubehör boten der Zeit die Stirn. Er senkte den Kopf, als er an einem dunklen Laden vorbei stürmte: Devotionalien Jacobs. Irgendwann würde er entscheiden müssen, was damit zu geschehen hatte. Er musste die Immobilienpreise im Blick behalten. Er war der Einzige, der das noch entscheiden konnte. Der Letzte war er auch.

Sein Handy plingte. „Wht the fck“, schrieb Ann-Katrin. Er schaltete es aus. Jemand rief seinen Namen. Das war das Problem mit der Stadt. Man wurde immer erkannt, von irgendwem. Er beschleunigte seinen Schritt, drehte eine letzte Runde. Busmannstraße, Hauptstraße, Annastraße.

Er trat wieder auf den Platz. Es war so weit. In der beginnenden Dunkelheit flackerten hunderte Lichter an den Seiten der Kerzenkapelle. Ihre Spiegelung im nassen Kopfsteinpflaster brachte die Kapelle zum Schweben. Er wusste, es war nurmehr eine Illusion, ausgeklügelt von findigen Architekten vergangener Zeiten – und doch war sie atemberaubend.

Er nahm eine Kerze aus dem Opferstock, lauschte dem mechanischen Klang seiner Münze nach. „Öfters hier?“, fragte ihn ein älterer Herr. Ein merkwürdiger Typ war das, sein geknautschter roter Hut war gerade noch auszumachen im letzten Licht.

„Nein“, antwortete er. „Eigentlich nicht.“

Der andere nickte. „Nichts ist ganz so, wie es scheint“, behauptete er und stellte eine Kerze auf. „Für meine Mutter. Sie war vom 22. November.“

Er stellte seine daneben. „Für meinen Bruder. Er war bis zum 22. November.“

Sein Telefon klingelte, wann hatte er es wieder eingeschaltet?

„Heute nicht mehr, Ann-Katrin“, sagte er heiter. „Morgen auch nicht. Wo ich bin? Ich bin in Kevelaer.“

Vita

Tanya Lieske, 1964 im Saarland geboren, lebt schon seit einem Vierteljahrhundert im Rheinland. Sie schreibt alles, was sich (be)schreiben lässt, Moderationen und Rezensionen, Kinderbücher und Reportagen, Gedichte und Kurzgeschichten. Auch ein Einkaufszettel kann sie glücklich machen, Hauptsache sie hat ihn selbst verfasst. Das Rheinland entdeckt sie immer noch mit den Augen der ansässigen Ortsfremden. Hören kann man sie hin und wieder im Deutschlandfunk am Mikrofon der Sendung „Büchermarkt“.