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Garten Eden in der Großstadt

Wulf Noll flaniert über den neuen Campus der Hochschule Düsseldorf in Derendorf.

Als Flaneur habe ich eine Schwäche für Promenaden und für den Campus, weil das belebte Orte sind, an denen man vieles sieht und sich sehen lassen kann. Ein Flaneur betreibt also die „Lektüre der Straße“, wozu sich die „Lektüre des Campus“ ebenso passend gesellt. Beim Promenieren möchte man den Blick erweitern, beim Gehen auf dem Campus sucht man unter Umständen nach Kommunikation. Man ist dort auf unkomplizierte Weise unter sich, unter jungen Intellektuellen, mit denen man aus heiterem Himmel heraus ein philosophisches Gespräch führen kann. Ich weiß, wie das geht, habe Talent darin.

Der Ort des Geschehens, der Campus der Hochschule Düsseldorf in Derendorf, ist ein Areal, das von der Münsterstraße, wo sich der Haupteingang befindet, sowie von der Rather Straße, der Toulouser Allee und dem Professor-Neyses-Platz mit dessen Geschäftskomplex umrahmt wird. Die Architektur und die Baulichkeiten der silbrig glänzenden Gebäude rufen bei Sonnenschein, wenn man auf freien Wegen zwischen Grünflächen und Fassaden schlendert, eine angeregte Stimmung hervor. Manch kluger Kopf sitzt dort mit einem Buch oder mit einem Text in der Hand, was produktiver aussieht, als wenn man ein Handy an die Ohrmuschel hält oder auf das Display schaut. Mensa und Cafeteria verfügen über einen Außenbetrieb, was je nach Witterungslage eine unterhaltsame Stunde im Freien zulässt.

Am Eingang zum Campus von der Münsterstraße aus erhebt sich eine denkmalsschwere Großplastik mit dem Titel „Hand am Zeichenstift“, wobei der Zeichenstift in Richtung des Campus und der neuen, ultramodernen Hochschulgebäude weist. Die Plastik, Mitte der 1980er Jahre fertiggestellt, ist ein Werk des Bildhauers, Fotografen und Filmemachers Klaus Kammerichs; in Düsseldorf bestens bekannt. Die Skulptur war das Markenzeichen der Fachhochschule in Golzheim, sie ist es auch am neuen Standort in Derendorf. Dieser Richtungsweiser lässt zugleich an den Philosophen Vilém Flusser denken, der, fast noch ein Troglodyt mit Gänsefeder, gleichwohl zum Entwurf einer famosen Medienphilosophie ansetzte, wenn auch nicht so geschwindigkeitsschnell wie die Herren Baudrillard und Virilio.

Die „Hand am Zeichenstift“ weist auf die Hochschulbibliothek. Der Eintritt löst und für immer einen nachhaltigen Schock aus, weil das historische Bibliotheksgebäude, die ehemalige Großviehhalle auf dem Alten Schlachthof, die Sammelstelle zur Judendeportation war. An die 6.000 Menschen wurden von hier aus in die Vernichtungslager Osteuropas geschickt. Diese Bibliothek, die zugleich Gedenkstätte ist, besitzt einen doppelten Boden. Der Blick zurück, das „nie wieder so“, sowie der Blick aufs 21. Jahrhundert sind ein Vermächtnis für Aufklärung und Toleranz.

In einem anderen historischen Gebäude, der ehemaligen Pferdehalle, befindet sich das „Zentrum für Weiterbildung und Kompetenzentwicklung“, kurz ZWEK genannt. Bei Pferden und Vieh muss ich an einschlägige Passagen bei Heinrich Heine denken, die ich aus Platzmangel und Pietätsgründen nicht zitieren kann ... Die Hochschule, deren neuer Campus 2018/19 fertiggestellt wurde, wollte von Anfang an eine offene Hochschule sein, einladend und bürgernah, und zwar nicht nur an Tagen der offenen Tür oder von Housewarming-Partys mit Bühnenshow. Doch dann kam Corona und ließ den jungen Campus Derendorf in einen kurzen, aber intensiven „Dornröschenschlaf“ fallen. Ab dem Wintersemester 2021 darf man mit einer Banderole, dass man geimpft, getestet oder genesen ist, wieder die Gebäude betreten.

Dort habe ich meine Lieblingsfakultäten: die Fachbereiche Sozial- und Kulturwissenschaften, Medien, Architektur und Design (Peter Behrens School of Arts). – Kulturwissenschaften (Comparative Culture) habe ich in Japan selbst betrieben, auch Medienphilosophie. Mit Kant und Hegel – sowie den postmodernen Architekten ‒ war und bin ich geneigt, die Architektur philosophisch zu sehen. Und ein gutes Design gehört zu einer solchen Hochschule einfach dazu. Als Dichter und als Flaneur bin ich jemand, der den Campus für den Garten Eden hält. Zu diesem Garten passt der „Friedensbaum“, eine von jungen Leuten aufgrund ihrer Initiative gerettete zweihundertjährige Platane vor Ort, die den japanischen Namen „Heiwa“ (Frieden) trägt und ein Symbol für die Verständigung unter den Kulturen ist.

Vita

Wulf Noll, gebürtig aus Kassel, lebt in Düsseldorf und auf Reisen. Seine Blicke richten sich auf China, Japan und Indien (früher in umgekehrter Reihenfolge), aber auch auf Deutschland. Er ist ein Flaneur in der Ferne, der das, was uns fern ist, in unsere Nähe rückt. Davon zeugen seine Erzählungen, Romane, Reisenovellen, Essays und zuweilen seine Lyrik. Er studierte Literatur-, Sprachwissenschaft und Philosophie in Berlin und promovierte an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf über das Frühwerk von Peter Sloterdijk. Noll ist Mitglied im Verband deutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller (VS) sowie im Internationalen PEN – Zentrum Deutschland.