Textstellen

Fühlinger See

Selim Özdoğan über ein Erweckungserlebnis im Kölner Norden.

Als Kind ist es schwer sich vorzustellen, wie die meisten Erwachsenen Geld verdienen. Bei Lehrern weiß man, was sie den ganzen Tag machen, oder man glaubt es zu wissen, auch Feuerwehrfrauen, Erzieherinnen, Bäcker, Kassierer sieht man bei der Arbeit und macht sich einen Begriff davon, wofür sie bezahlt werden. Doch Anwältin, Steuerfachgehilfe, Kulturdezernentin, Controller, Softwareentwicklerin ist meist zu abstrakt, um mit fünf, acht oder auch zwölf Jahren dahinterzusteigen, was da den ganzen Tag passiert. Oder auch mit 24 oder 48 noch. Die meisten Kinder sehen nicht mal den Arbeitsplatz, an dem die Eltern so viel Zeit verbringen, weil das nicht vorgesehen ist in einem System, in dem niemand in Frage stellt, warum man fünf Tage die Woche die Arbeitskollegen länger sieht, als die eigenen Kinder.

Ich wusste, dass mein Vater einen Ausweis hatte, einen Werksauweis. Der hat sich im Laufe der Jahre verändert, aus einem harten Plastikding mit gestanzten Löchern, das kaum in meine Kinderhand passte, ist schließlich etwas im Bankkartenformat geworden. Ich wusste, dass mein Vater einen Spind hatte und sich auf der Arbeit umzog. Ich wusste, dass er in Hallen arbeitete und dass er Schichtdienst hatte. Ich wusste, dass sie Pausen hatten auf der Arbeit. Aber ich konnte mir nie ein Bild davon machen, was den ganzen Tag dort geschah, oder auch nur davon, wie der Raum mit den Spinden aussah.

28 Jahre hat mein Vater bei Ford gearbeitet, im Kölner Norden. Er war schon lange in Frührente, als ich anfing regelmäßig auf das Summerjam zu gehen, ein Reggaefestival am Fühlinger See.

An einem Festivaltag saß ich an der Regattastrecke des Sees, ein wenig abseits von den Bühnen. Auf das Wasser schauen, die Füße kühlen, den Rausch des Psychedelikums genießen, der dazu führte, dass ich die Bewegung der kleinen Wellen in mir drin spüren konnte, als wäre mein Körper beweglich wie das Wasser.

Mein Blick fiel auf das Ford-Emblem der ockerrot und mattgelb gestreiften Halle, die man von dort aus sehen kann. Ich musste an meinen Vater denken. Dass er jahrelang dort gearbeitet hatte. Ohne je an diesen See zu fahren. Eine Arbeit, in der er keinen anderen Sinn sehen konnte, außer Geld zu verdienen. Dass ich nur hier saß, high grinsend, weil er dort Geld verdient hatte. Arbeit, Leben, Rausch, Balance, die Zeit, in der man die Kinder sieht, die Zeit, die man mit Menschen verbringt, die man nach der Rente nie wieder sieht.

Wie viele Menschen dort jetzt noch arbeiteten, Menschen, die vielleicht auch nie hierhin fuhren. Ins Naherholungsgebiet. Jahrelang habe ich den Fühlinger See so gesehen. Das Summerjam hat mit Erholung nichts zu tun, es ist voll, es ist laut, es gibt Berge von Müll, und auf der Bühne wird zwar immer wieder die Reggaefloskel von One Love bemüht, aber es schert niemanden, dass so ein Open Air keine Liebe für die Vögel bedeutet, keine Liebe für die Wiese, keine Liebe für die Luft, keine Liebe für die Erde.

Nach diesem Erlebnis an der Regattastrecke waren mein Vater, die Ford-Werke, seine Arbeit, von der ich mir nie einen Begriff machen konnte, für mich verbunden mit dem See.

Eine weitere Verknüpfung kam hinzu, als wir in der Pandemie häufiger an den See fuhren. Es war ruhig, es war sauber, es war leise, es war sonnig, es war leer. Es war schön. Wir lagen auf der abschüssigen Wiese, wo wir auch während des Festivals oft lagen, aber die Stimmung war eine andere. Wir genossen die Sonnenstrahlen, die sich im Wasser spiegelten.

Es gibt keinen anderen Ort in Köln, der für mich mit Arbeit, Feiern und Ruhe gleichzeitig verknüpft ist. Es gibt keinen anderen Ort auf der Welt.

Vita

Selim Özdoğan, geboren 1971 in Köln, hat seit seinem Debut Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist (1995) zahlreiche Romane, Erzählungen und Hörbücher veröffentlicht, Preise und Stipendien erhalten und viel erzählende Prosa geschrieben. Er lebt in Köln.