Textstellen

Eiskeller­straße 1

Bettina Hesse über Düsseldorfs berüchtigte Kunst-Achse zu Zeiten von Beuys.

Zwei Brötchen mit Fleischwurst, bitte.

Für mich auch!

Also, wie viele wollt ihr denn insgesamt?

Jeden Tag gehen sie in den kleinen Laden, manchmal ist so viel los, dass sie ohne Pausenbrötchen zurück in die Schule müssen. In dem Geschäft Ecke Ratingerstraße kaufen auch die Akademiestudenten ein. Die Frau hinter der Theke wischt die Hände an der Schürze ab, schneidet Brötchen auf und bestreicht sie mit Rama, als die Türglocke geht. Herein kommt der mit dem dicken Schnäuzer und Hut. Er riecht nach Holz und will auch Brötchen: Mit Wurst und Käse, wie immer.

Moment, erst sind hier die jungen Damen von Ursulinen dran, gleich ist die Pause zu Ende.

Ein Segen, heute schreiben sie nämlich die Mathearbeit, letzte vorm Abi!

Jemand hat erzählt, der Schnauzbart sei Schutzmann bei der Polizei. Sieht gar nicht so aus.

Sie setzen sich noch kurz auf die Steinstufen am Rhein und rauchen eine.

Mathearbeit leider vier minus, aber die Kunstlehrerin rät ihr, unbedingt an die Akademie zu gehen. Sie haben das Zeug dazu! Bewerben Sie sich bei Richter, der unterrichtet jetzt Malerei dort. Ihr Selbstportrait wurde direkt neben dem Lehrerzimmer aufgehängt – jedes Mal möchte sie im Erdboden versinken.

Die Jahresarbeit in Kunst schreibt sie über die Gruppe Zero und konzentriert sich auf Uecker. In Objekte Nägel zu treiben und damit eine weiße Welt in Bewegung zu schaffen, ist doch irre, denkt sie in der Ritterstraße, auf dem Weg zur Akademie. Günther Uecker ist nicht da, sie bekommt aber seine Telefonnummer. Für das Treffen schlägt er ein Hausboot in Himmelgeist vor. Sie unterhalten sich lebhaft, stundenlang, er leiht ihr seinen neuen Katalog, den sie vergessen wird zurückzugeben. Für die Jahresarbeit bekommt sie eine eins.

Endlich ist der Sommer 1972 da: Sie hat ihr Abi in der Tasche. Born to be wild. In der Uel ist Blinky Palermo, lässig in weißen Jeans an der Theke spendiert er ihr Bier. Er hat bei Beuys studiert. Geh zu ihm, sagt er, alle anderen kannst du vergessen. Als sie nach nebenan in den Ratinger Hof wechseln, stehen Imi Knoebel und Polke am Tresen. Die Musik ist laut, ihr Zweiergespräch verliert sich, sie werden zu losen Trabanten. Vielleicht sollte sie doch bei Beuys studieren ...

Die Mappe hat oben zwei Leinenbändchen. Für die Bewerbung verknotet sie eins ihrer langen blonden Haare in der Schleife. Mit dem Trick könne man später sehen, ob die Mappe geöffnet worden sei. War sie nicht! Sie bekommt sie zurück, das Haar liegt unversehrt in der Schlaufe. Monatelang hat sie daran gearbeitet, hoffend und zweifelnd, ob sie angenommen wird. Und nun hat keiner ihre Bilder angeschaut, die Mappe wurde nicht mal aufgemacht.

Im Oktober besetzt Beuys mit seinen Studenten das Sekretariat – aus Protest gegen Aufnahmebeschränkungen. Er will alle Bewerber aufnehmen. Hausfriedensbruch tönt die bourgeoise Kulturbürokratie, und Wissenschaftsminister Rau schmeißt Beuys kurzerhand raus. Niemand wird in diesem Jahrgang in der Eiskellerstraße aufgenommen.

Vita

Bettina Hesse ist in Düsseldorf geboren, wo sie studierte, Flugblätter verteilte und Taxi fuhr. Dann verschlug es sie elf Jahre nach Italien, um mit ihren zwei Söhnen rheinaufwärts in Köln anzukommen. Neben dem Schreiben – Prosa, Essays, Stücke und Rezensionen – arbeitet sie mit der Stimme. Aber wer weiß, was sie heute täte, wenn ihre Kunstmappe damals geöffnet worden wäre ...