Textstellen

Eine Straße mit vielen Gesichtern

Florence Hervé über die Düsseldorfer Königsallee.

Ende der Fünfzigerjahre war ich, ein Pariser Teenie, erstmals auf der Kö. Meine Düsseldorfer Gastfamilie hatte mir die kleine Champs-Élysées stolz angekündigt. Und konnte meine Enttäuschung nicht verstehen. Mir erschien sie im Vergleich mit der großen etwas mickrig. Mit der Kugelwerferin – einer einsamen Boule-Spielerin? – konnte ich mich aber anfreunden. Dass der Name des Stifters jüdischer Herkunft entfernt worden war, erfuhr ich erst später. Übrigens auch, dass der Lieblingsdichter meiner französischen Schulzeit, Heinrich Heine, ein paar Schritte von der Kö entfernt geboren worden war und dort seine Kindheit verbrachte. Vom Hitler-Faschismus schien meine Gastfamilie nichts zu wissen – kein Thema auf der Kö, wo wir bei Kaffee und Kuchen saßen – ach, die Ks! –, an den Nachbartischen feine Damen mit Pelzjäckchen.

Doch gab es schon damals Kastanienbäume, Ulmen und das stille Wasser des Kö-Grabens.

Ende der Siebzigerjahre, nach meinem Umzug nach Düsseldorf, fand die Kö immer noch kaum Sympathie bei mir. Shopping, zumal im Luxus-Modus, war nicht meine Sache. Stattdessen galt es, für Frauenrechte zu streiten und die verschwiegene Düsseldorfer Frauengeschichte zu entdecken. Dabei begegnete ich ihr wieder, der Kö, verbunden mit dem Namen einer Widerstandskämpferin. Klara Schabrod, eine junge Mutter, war als erste Frau 1933 im damaligen SA-Folterkeller in den Tresorräumen der Mitteldeutschen Creditbank (später Bankhaus Trinkaus) „verschärft vernommen“ worden. Das hieß Verhöre, Schläge, Flüche, Schreie. Blut an der Kö.

Allmählich entdeckte ich die andere Seite der Prachtstraße. Im imposanten Parkhotel (heute Steigenberger), dem Treffpunkt des Industrieclubs, hatte sich Hitler bereits 1932 die wirtschaftliche Unterstützung von Thyssen & Co. gesichert. Der Beginn einer finsteren Epoche. Hinter gut dreißig Kö-Hausnummern waren Geschichten und Gesichter verborgen. Geschichten von der „Arisierung“ von Geschäften (wie das Leonhard-Tietz-Kaufhaus – heute Galeria Kaufhof), von Kunstgalerien, Ladenlokalen, Praxen und Büros. Geschichten von Judenverfolgungen, Enteignungen, Kündigungen, Boykott, Überfällen, Verwüstung. Und Gesichter von Frauen, Männern und Kindern, die ins Exil getrieben wurden oder aus Konzentrationslagern nicht zurückkamen. Tragische Schicksale an der Kö.

Die Kastanienbäume, die Ulmen und das stille Wasser des Kö-Grabens gibt es heute noch.

In der großen Champs-Élysées in Paris soll ein Riesenpark entstehen, mit weniger Autos, vielen Bäumen und viel Grün. Auch in Düsseldorf träume ich von einer anderen Kö. Von einer Allee für alle.
Als Ort der Begegnungen und Überraschungen.
Als Straße der Künste, mit Kasperletheater und Musik (und weiterhin mit wunderbarem Bücherbummel).
Als Schaufenster der menschlichen Komödie. Mit vielen kleinen Läden und Cafés. Im steinernen Tritonen-Brunnen spielen Kinder.
Als Gedächtnis der Stadt. Mit Gedenktafeln, die von Geschichten vergangener Zeiten erzählen.
Als Ort der Solidarität, wie für einen Augenblick beim Protest von „Fridays for Future“ im September 2019 erlebt.
Als Utopie des guten Zusammenlebens.
Das wäre meine Kö.

Vita

Die Neugier auf ein widersprüchliches Land führte Florence Hervé Mitte der sechziger Jahre von der Seine zum Rhein, zunächst nach Bonn, Ende der siebziger Jahre nach Düsseldorf, mit Zwischenstation in Heidelberg. Die französische Autorin schreibt literarische Reportagen und Sachbücher, darunter über mutige Frauen aus verschiedenen Ländern, auf Deutsch und Französisch. Sie lebt heute in Düsseldorf und im Finistère.