Textstellen

Eine andere Zeit

Sigrid Zeevaert über einen alten Schmugglerpfad in der Nähe des Dreiländerecks.

Sie liefen voran, auch als es bergauf ging, drückten sich hinter die Büsche, um dem Blick der Eltern so zu entgehen, die von ihnen verlangten, die Wege nicht zu verlassen, nicht in den guten Jacken, die sie an Sonntagen trugen. Die Kinder wuchsen ja schnell, so wie der Wunsch nach Abenteuer, der sie hier immer packte, wo es nach Erde, Regen und anderen Zeiten roch. Manchmal schien es, als könnten sie noch die Stimmen hören. Von Hexen, die über den Hohlweg getrieben wurden, raus aus der Stadt. Auch von Soldaten und Wachleuten, für die dieser Weg wie ein Schutzgraben war, durch den sie sich fast ungesehen bewegten und dafür sorgten, dass kein Feind ins Stadtinnere vordrang.

Die Kinder überblickten die brüchigen Kanten noch nicht, auch wenn sie sich streckten und dann eben doch an einem der knorrigen Stämme empordrückten. „Kein Feind in Sicht“, murmelten sie. „Obwohl…“ Jetzt hielten sie inne. Überhörten die mahnende Stimme. „Denkt an die Jacken!“ Als ob das wirklich das Wichtigste war. Sie kraxelten über den rutschigen Boden, hangelten sich an Auswüchsen von Kopfweiden entlang. Bussarde kreisten über der Wiese, an ihren Rufen konnten sie sie erkennen. An ihrem Gleiten, bevor einer von ihnen zum Sturzflug ansetzte und in der Krone einer alten Buche verschwand.

„Kommt zurück!“, rief der Vater.

Diesmal hörten sie hin und nickten ergeben, als er schimpfte, dass sie nicht die Hänge hochklettern sollten. Ja, ja. Kaum war er fertig, bückten sie sich aber schon nach herumliegenden Eicheln und Bucheckern, steckten sie in die Taschen, warteten, bis die Eltern ein Stück vorausgegangen waren. Blickten sich um. Lag hinter ihnen nicht eine andere Zeit? Fast konnten sie sie noch sehen. Nicht die Soldaten, sondern die, die damals Kinder gewesen waren, jetzt wären sie alt, auch wenn nicht alle darüber weggekommen waren, es war nach dem Krieg, der schlimm genug gewesen war. Sie hatten sich etwas dazuverdienen müssen, der Vater hatte davon erzählt. Da kam der Schmuggel von Kaffeebohnen, Zigaretten und sonst allerhand ihnen nur recht. Selbst Kinder hatten sich daran beteiligt. Waren den Hohlweg entlanggelaufen, über den Hügel und weiter durch einen Tunnel, wo Deutschland aufhörte und Belgien begann. Im Schutz der Dunkelheit waren sie losgezogen, ganze Gruppen, hatte der Vater gesagt und der musste es wissen. Weil eine seiner Tanten, die damals blutjung gewesen war, fast noch ein Kind, eines Nachts nicht zurückgekehrt war. Die Zöllner hatten auf alles geschossen. Jetzt waren keine mehr da und es wartete auch kein Kaffee auf einem versteckten Gehöft, der in Rucksäcken von Belgien nach Deutschland geschleppt werden musste, mit dem Schmuggeln war es lange vorbei, mit dem Zittern und Bangen. Auch wenn es den Weg immer noch gab und die Zeit, die in Wurzeln und Kanten lag, in den Steinen, über die sie jetzt liefen und sich ausmalten, die Taschen voller Bohnen zu haben, die ihnen Glück versprachen und halfen, den Hunger zu stillen.

Vita

Sigrid Zeevaert, 1960 in Aachen geboren, wo sie auch heute lebt, arbeitet und die Vielfältigkeit einer Region genießt, die auf engem Raum verschiedene Landschaften, Sprachen, Kulturen und Einflüsse zusammenbringt und viel Geschichte aufweist. Das Schreiben entdeckte sie schon als Kind für sich und machte es bald nach dem Studium zu ihrem Beruf.