Textstellen

Drei Fähnchen Heimat

Burkhard Spinnen über seine Geburtsstadt Mönchengladbach.

Der Geburtsort ist eine Tatsache, um die man schwer herumkommt. Er bleibt einem in der Biografie stecken, auch wenn die Eltern schon ein paar Tage nach der Geburt weitergezogen sind. Und hat man gar seine ersten achtzehn Jahre an diesem Ort verbracht, so drängt sich neuerdings das Wort Heimat auf. Während der längsten Zeit meines Lebens war es wegen seiner braunen Vergangenheit im Exil, inzwischen aber ist es rehabilitiert, darf sogar Ministerien benennen und steht auch bei mir ständig vor der Tür, mit einem dicken Fragezeichen im Gepäck.

Ist Mönchengladbach, wo ich geboren wurde, meine Heimat? Eine schwierige Frage, die endlose Diskussionen stimuliert. Ich will aber gar nicht diskutieren, erst recht nicht auf einer gefährlichen Abstraktionshöhe. Lieber nehme ich einen Stadtplan zur Hand und stecke Fähnchen hinein, Landmarken für Sehenswürdigkeiten und Erinnerungen.

Das erste Fähnchen stecke ich gleich unterhalb des Gladbacher Münsters, mitten in eine der Postkartenansichten, in den ersten Stock des zweiten Hauses von links. Das Viertel am Fuße des Hügels, auf dem die große romanische Basilika steht, muss bis zum letzten Krieg recht belebt gewesen sein, wenngleich nach heutigen Maßstäben nicht besonders lebenswert. Schlichte Häuser und kleine Industrie, die den Bach verschmutzte, der der Stadt den Namen gegeben hat, aber damals sicher keineswegs glade, also rein war. Nach dem Krieg entledigten sich die Stadtplaner rigoros des Schandflecks, und seitdem bildet der Geropark rund um den Geroweiher genug freies Terrain für einen unverstellten Blick auf das Wahrzeichen der Stadt. Nur unmittelbar unterhalb des Münsters, oberhalb der Weiherstraße, wurden ein paar Häuser neu gebaut, quasi als pittoreske Ergänzung des Postkartenmotivs. Und eben dort wohnten in einer Dienstwohnung die Eltern meines Vaters, geschuldet dem Umstand, dass mein Großvater der Chauffeur des Oberbürgermeisters war und in der Nähe des Rathauses wohnen musste.

Wenn man klein ist, nimmt man fast alles für selbstverständlich, ich zum Beispiel die Tatsache, dass meine Großeltern, bescheidene Leute aus bescheidenen Verhältnissen, in einer der bestgelegenen Wohnungen der Stadt lebten. Blick nach vorne auf den frisch angelegten Park, Blick nach hinten vom Balkon, der sich an den Münsterberg lehnte, schräg hoch entlang der breiten Kirchenfront in den Himmel über Gladbach. Würde ich dort heute wohnen, wäre ich im Sommer sicher heimgesucht von allen meinen Freunden und Bekannten, die bei kalten Getränken stilvoll zu Füßen des Münsters chillen wollten. Zu Zeiten meiner Großeltern hielt man sich auf dem Balkon nicht auf. Es gab da nicht mal einen Stuhl.

Vor ein paar Jahren wurde die Wohnung zusammen mit der darüber liegenden renoviert und zur Tagesmiete angeboten. Ich war begeistert. Was für eine Aussicht, nach über fünfzig Jahren noch einmal bei Oma und Opa auf der Weiherstraße zu übernachten. Aber das Geschäftsmodell ist der Pandemie zum Opfer gefallen. Ich habe die Chance vertan. Wer weiß, vielleicht ist das besser so.

Zweites Fähnchen. Ausgerechnet in den Jahren von 1972 bis 1974, da die Borussia nicht Deutscher Meister wurde, bin ich fast jeden zweiten Samstag allein oder mit Schulkameraden vom Gymnasium nahe des Münsters die nicht allzu lange Strecke zum Stadion am Bökelberg gegangen. Meistens war es gerade erst geöffnet, und wir durften stundenlang auf der Gegentribüne bis zum Anpfiff warten. Nach dem Spiel wälzte sich dann die Zuschauerkolonne, je nach Ergebnis heiter oder zerknirscht, zurück in die innerstädtischen Kneipen.

Das Stadion, das den sagenhaften Aufstieg eines vormals unbedeutenden Provinzvereins gesehen hat, existiert schon seit fast zwanzig Jahren nicht mehr, wahrscheinlich zur anhaltenden Genugtuung der Villenbesitzer rundum, deren Vorgärten bei Heimspielen arg leiden mussten.  Das Gelände ist zur gehobenen Wohngegend umgewidmet, aber Westtribüne und Stücke von Nord- und Südkurve sind als gartenbauliche Anlagen noch erkennbar. Man hat das Stadion zuerst gesprengt und planiert und dann in Teilen hergerichtet wie einen archäologischen Ausgrabungsort. Wenn ich wollte, könnte ich mich an den Platz stellen, von dem aus Egon Milder am 5. Juni 1965 in der 90. Minute des Spiels gegen Holstein Kiel die Borussia in die Bundesliga köpfte. Ich würde auch den Platz wiederfinden, an dem ich in dieser 90. Minute stand. Aber ich werde den Teufel tun und mich auf dem Bökelberg in ein lebendes Fossil verwandeln.

Das dritte und letzte Fähnchen stecke ich hinter die Kirche Mariä Himmelfahrt im Gladbacher Vorort Hehn, in der ich kurz vor Silvester 1956 getauft wurde. Die Kirche ist ein Wallfahrtsort, und in ihrem Schatten erwartet den Pilger eine künstliche Grotte, ein muschelförmiger Wall mit einer großen Nische in der Mitte und je einem Durchgang rechts und links davon. Zu meinen Volksschulzeiten hatte ich die heilige Grotte respektloser Weise mit einem Hindernis beim Minigolf verglichen. In der mittleren Nische sitzt hinter Gittern eine Muttergottes mit ihrem toten Kind auf dem Schoß. Das Kind ist der Überlieferung nach so alt wie gerade im Moment mein älterer Sohn. Den Wall hinauf und wieder hinunter führt eine Treppe vorbei an den Figuren der vierzehn Nothelfer, die bunt bemalt sind und von denen sieben Waffen tragen, darunter auch Frauen. Als das Grab meiner Großeltern auf dem Friedhof gleich dahinter noch existierte, zählte ich die Nothelfer gelegentlich ab. Würde ich sie jetzt besuchen, wäre es eine Pilgerreise.

Der Himmel, den John Lennon nur als „only sky“, also als leer imaginieren konnte, dieser Himmel alleine weiß, wie man Heimat verbindlich definiert. Also stecke ich weiter Fähnchen, in einen Stadtplan mit dem unsichtbaren Titel Heimat. Sie markieren keine Gewissheiten, allenfalls Fragen und eine diffuse, gegenstandslose Trauer.

Vita

Burkhard Spinnen, geboren 1956 in Mönchengladbach, ging 1976 zum Studieren nach Münster und lebt seitdem dort. Er schreibt Erzählungen, Romane, Kinderbücher, Essays, Glossen und Rezensionen. Für seine Werke wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem aspekte-Literaturpreis, dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, dem Herbert Quandt Medien-Preis und dem Deutschen Hörbuchpreis.