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Die Motte

Erwin Kohl über einen besonderen „Haufen Erde“ in Alpen am Niederrhein.

„Das ist doch nur ein Haufen Erde, Oma. Ich verstehe nicht, warum den Menschen in Alpen dieser Hügel so wichtig ist.“

Maria Kiwitt lächelt vielsagend. Sie hatte sich für den Sonntagsspaziergang mit ihrer Enkeltochter ganz bewusst dieses Ziel ausgesucht. „Am Niederrhein gibt es keine Berge. Um ihre Burgen vor Angreifern zu sichern, haben die Menschen vor über 800 Jahren Erdhügel aufgeschüttet und sie darauf gebaut. Viele Jahre später kamen die Franzosen hierher und nannten diese Hügel motte.“

Katharina sieht ihre Oma staunend an. „Dort stand mal eine echte Burg?“

Maria Kiwitt nickt. „Ja. Und in dieser Burg lebte die gute Seele Alpens: Kurfürstin Amalie. Sie hat sich um die Armen gekümmert, hat den Menschen Arbeit gegeben, ihre Sorgen und Nöte ernst genommen und“, Maria zeigt mit dem ausgestreckten Arm auf die nur einen Steinwurf entfernte evangelische Kirche, „hat hier in Alpen die erste reformierte Kirche Deutschlands bauen lassen.“

Katharina wirkt nachdenklich. Im Geschichtsunterricht lernen sie gerade, wie grausam viele Herrscher im Mittelalter waren.

„Kurfürstin Amalie war anders, sie hat mit ihrer Menschlichkeit und Wärme die Menschen in Alpen bis heute geprägt. Und irgendwie sind sie dann ja auch in ihren Schoß geflüchtet, als der Zweite Weltkrieg ausbrach“, erzählt ihre Oma. Dann nimmt sie ihre Enkelin am Arm und geht mir ihr zu einer Stahltür am Fuß des Hügels.

Katharina hatte im Internet gelesen, dass dahinter ein alter Stollen liegt, den ein Verein wieder freilegen und den Menschen zugänglich machen will.

„Den haben Bergarbeiter im Krieg in die Motte getrieben. Über dem Stollen befinden sich die Grundmauern der alten Burg. Als die Bomben fielen, haben Mütter mit ihren Kindern darin Zuflucht gefunden.“

„Vor allem Schutz“, ergänzt Katharina.

Ihre Oma schüttelt langsam den Kopf. „Nein. Der Stollen wurde nur von Holzbalken gestützt. Eine einzige Bombe hätte wohl alle begraben. Es war ein Ort der Hoffnung und der Zuversicht. Auch wenn die Sirenen heulten und die Frauen nicht wussten, ob sie ihre Männer jemals wiedersehen, wurde gesungen und gelacht. Wer eine kleine Landwirtschaft hatte, hat Brot und Schinken mitgebracht und an die anderen verteilt. Ich bin deiner Uroma sehr dankbar dafür, dass sie die Angst nicht an mich herangelassen hat.“

Katharina wirkt sehr nachdenklich. Sie erinnert sich, dass die Oma ihrer besten Freundin ihr einmal von diesem Ort erzählt hat.

Maria Kiwitt streicht ihrer Enkeltochter durchs Haar. „Es ist kein Zufall, dass viele Enkel und Urenkel dieser Frauen heute befreundet sind. Es war eine schlimme Zeit, aber die Tage und Nächte dieser Alpener Mütter in der Motte haben die Menschen hier miteinander verbunden.“

Katharina sieht ihrer Oma besorgt in die Augen. „Ob wir eines Tages wieder in diesen Stollen müssen?“

„Das glaube ich nicht. Die Menschen sind vernünftiger geworden, sie haben aus unserer Geschichte gelernt“, erklärt Maria lächelnd, um Sekunden später mit ernster Stimme anzufügen: „Leider nicht alle.“

Vita

Erwin Kohl wurde 1961 in Alpen am Niederrhein geboren und hat diese herrliche Tiefebene seither nicht verlassen. Die Soziologie der Niederrheiner und ihre vielschichtigen Charaktere bilden häufig den Hintergrund seiner Kriminalromane und Kurzgeschichten. Im September 2021 erschien im Emons-Verlag mit Der war schon tot der vierte Teil der Serie um den Privatermittler Lukas Born.