Textstellen

Der Versuch, die Idylle zu beschreiben

Heike Fink über den Leimberghof am Stadtrand von Wuppertal.

Es war zu früh für Spinnen auf silbernen Fäden. Die durch die Luft gleiten, sich tragen lassen, mitunter über das Meer, so die Mär. Sie hätten gut hierher gepasst. Keiner hätte sich gewundert, wenn eine Spinne vorbeigeschwebt wäre. Es war Ende Mai. Um den Hof standen die Rapsfelder in voller Blüte. Ein Gelb, so tief und klar und weit, dass ich die Augen schließen musste, um glauben zu können, dass eine solche Farbe existierte. Der Leimberghof kam mir vor wie ein Wächter dieser Farbe, ein Hüter von Gelb. Ich stand auf der Anhöhe, vor mir lag der Schönefelder Weg, ein schmaler Schotterweg, der seinem Namen alle Ehre macht. Er führte hinab zum Hauptgebäude, zur Scheune nebenan und zu dem kleinen See, der immerhin groß genug war, um mit einem Ruderboot darauf zu fahren. Das Rapsgelb überstrahlte alle anderen Farben und ließ Gras, Bäume, das dumpfe Seegrün, das ziegelrote Haus und sogar den Himmel und die Sonne matt erscheinen. Über allem ruhte die Stille, von der man nie weiß, ob sie sich von oben herabgesenkt hat oder aus der Erde emporgestiegen ist. Oder ob sie nur deshalb hörbar, wahrnehmbar ist, weil man sich der Abwesenheit von menschlich und technisch verursachten Geräuschen bewusst wird – angesichts der Idylle. In die man gleich hineintreten wird, wie in ein Bild, ein Gemälde, eine Postkarte. Etwas, das geschaffen wurde, von wem auch immer, um zu beweisen, dass es sie gibt, die pure Schönheit.

Der Leimberghof ist schön gelegen. Zwischen sanft abfallenden Feldern und Wiesen befindet er sich in einer Senke, beinahe inmitten des Städtedreiecks Wülfrath, Neviges, Wuppertal. Enger gefasst zwischen den kleinen Ansiedlungen Oberdüssel, Siebeneick, Königshof. Mit leicht schielenden Augen könnte man behaupten, der Leimberghof bilde das Herz eines Dreiecks. Ein grünes Herz in rapsgelb blühendem Gewebe. Je langsamer man sich dem Leimberghof nähert, sich Zeit lässt, sein Gelände zu betreten, sachte ist und behutsam, je mehr wird einem bewusst, gleich kann es passieren: Gleich könnte man wahrhaft in ein Bild eintreten; die Grenze überschreiten zwischen Welt und der Vorstellung, wie die Welt sein könnte, ließe man die Idylle geschehen und zu.

Warum tut man sich so schwer mit der Idylle? Damit, sie ernst zu nehmen? Sich beschenken zu lassen, von Harmonie, Gleichklang, dem Lieblichen, dem Paradiesischen vielleicht. Woher kommt es, dass wir es kaum zulassen können, all das Störende auszublenden und uns der Idylle hinzugeben? Ich weiß es nicht. Und wenn ich es wüsste, würde sich dann etwas ändern? Nein, vermutlich nicht. Was ich tun kann, ist zu üben, Teil der Idylle zu sein – mich in die Postkarte zu begeben. Oder in das Gedicht hineinzuschreiben. Mir vorzustellen, es gäbe ihn, diesen Ort jenseits aller Härte, Zwänge, Anforderungen. Der Leimberghof erinnert an das Schöne, Freie, das es vielleicht einmal gab.

Womöglich ist er deshalb einer meiner Lieblingsorte. Wann immer ich mit knirschenden Schritten den Schotterweg hinuntergehe, überkommt mich Frieden und Ruhe. Ich gehe langsam, Schritt für Schritt. Und dann kommt der Moment, an dem ich mich entscheiden muss: Gehe ich direkt auf den Hof zu mit seiner Tanne, die hinter dem Giebel emporragt, oder in Richtung der Scheune? Oder wende ich mich nach rechts zu dem kleinen See, den man in drei bis fünf Minuten umrunden könnte, sofern man zügig geht? Der See lockt mich. Das Ufer ist gras- und schilfbewachsen. Eine Handvoll Bäume steht auf der Längsseite und neigt sich dem Wasser zu, als wollten sich ihre Blätter absichtlich darin spiegeln und sich schön machen für die Beobachterin. Am Ufer gegenüber wartet das Geschenk: ein Steg, der hineinführt, über das Wasser führt, das in der Sonne funkelt und glitzert, ziemlich gleißendes Licht. Ich betrete den Steg und lege mich auf den Rücken. Das Holz ist warm. Meine Arme sind dicht neben meinem Körper, und ich lausche und weiß, selbst wenn ich die Augen schließe, alles ist da: das Gelb, die Blätter, Gras und die roten Ziegel vom Haus und der Himmel über mir.

Vita

Heike Fink wurde 1968 in Marbach am Neckar geboren und ist auf der schwäbischen Scholle aufgewachsen zwischen Weinbergen und Kochtöpfen. Ihre Eltern waren Köche, die Großväter Metzger und Winzer. Sie absolvierte ein Redaktionsvolontariat bei einer Fachzeitschrift für Gastronomie und war eine Zeitlang Testesserin – bis sie Vegetarierin wurde. In Wuppertal studierte sie Literatur und Soziologie und ist seither dort geblieben. Seit 2000 arbeitet sie als freie Drehbuchautorin für Film und Fernsehen und seit 2012 als Regisseurin.