Textstellen

Der Schulweg

Herbert Genzmer über Kindheit in Krefeld-Dießem.

Raus aus dem Haus, und natürlich willst du nach links, aber links ist verboten! Trotzdem gehst du nicht nach rechts, gehst mit heißem Blick auf die Ampel bis Ecke Oppumer, aber biegst links ein – über die Ampel ist Todsünde. Da geht es zum Schlachthof, zum Verschubbahnhof, den verlockendsten Orten der Welt. Kommt der Wind von da, riecht es nach Blut, jedenfalls sagen das die Erwachsenen. Wir finden, es riecht irgendwie süßlich, und alle denken, es ist Geruch nach toten Tieren, die aufgeschlitzt an ihren Hinterbeinen hängen. Was da so drin ist in so einem Tier, sagt der dicke Wolfgang, und wenn es aufgeschnitten wird ... angeekelt und erregt malen wir uns alles aus, da redet Karl schon vom Verschubbahnhof, von den Güterzügen, wo einzelne Waggons in Zeitlupe über Gleise und Weichen rollen und von Geisterhand zu ganzen Zügen zusammengestellt werden. Da sind die Großen und sie legen als Mutprobe ihre hochroten Köpfe zwischen Vorder- und Hinterachse auf die Schiene: Waggon kommt gerollt, erste Achse, blitzschnell die Wange auf die Schiene drücken, mit gehetztem Blick auf die Hinterachse einzweidrei und raus! Hinterrad rasselt vorbei. Da müssen wir hin! Ihr seid zu klein!, tönen die Großen; Bloß nicht!, die Eltern. Heimlich geht auch nicht, denn auf dem Dießem weiß jeder alles, und das Getuschel summt wie die Oberleitungen auf der Oppumer Straße, über die wir jetzt zur Ecke Viktoriastraße rennen, wo wir noch schnell durch den Zaun zum Bunker steigen und scheu auf die Stelle sehen, wo der große Paul … er ist ganz hinaufgestiegen, wollte‘s Karin zeigen und rutschte auf der Schräge im offenen Flak-Schacht aus und ab. Karin soll unglaublich geschrien haben. Wolfgang behauptet, Paul ist weggezogen, sein Vater war ein Simulant ausm Krieg, hat nie gearbeitet, und die Mutter ist mit Paul weg. Die haben sich scheiden lassen! Kann man sich gar nicht vorstellen. Dann lieber tot. Schon rennen wir schräg über die Straße und rechts in die Hardenbergstraße und zur größten Versuchung. Wer da rein macht, muss das beichten, tönt Wolfgang, aber die passende Sünde fällt ihm nie ein. Hier ist Doktor Helle, und wenn du Glück hast … ja, das Tor steht auf. Die anderen laufen weiter, du zögerst, kein Hausmeister zu sehen, also rein zu den Tonnen, wo die misslungene Produktion – schiefes Stanniolpapier, keine richtige Nappo-Form – weggeworfen wird, Ranzen fliegt zu Boden, du wuchtest dich hoch und lässt dich ins Nappo-Paradies fallen und greifst dir, so viel du kannst, ziehst dich am Rand hoch, da stürmt der Hausmeister schon heran mit seinem Holzbein und brüllt Dieb! Schwein! Verbrecher! Aber du schaffst das, packst den Ranzen, Nappos fallen dir aus den Händen, drei hast du noch, da humpelt er schon heran, doch du, ab durch die Durchfahrt, nach rechts, und im Laufen stopfst du dir ein Nappo in den Mund, die Schokolade klebt, die Süße ist skandalös, und ganz außer Atem stürmst du in die Florastraße und stößt das Schultor auf, als das Achtuhrklingeln gerade verklingt.

Vita

Herbert Genzmer, geboren 1952 in Krefeld, ist Schriftsteller und Germanist. Er studierte in Berlin, Düsseldorf und Köln Anglistik, Linguistik und Kunstgeschichte. 1987 folgte die Promotion an der University of California, Berkeley. Er ist Autor zahlreicher Publikationen bei nationalen und internationalen Verlagen. Er lebt heute als Dozent und freier Autor in Berlin und Tarragona, Spanien.