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Der Schlüssel

Ulrike Renk über Kerken und den Niederrhein.

„Schau mal“, sagt Gisela, meine Schwiegermutter. „Das Haus gegenüber wurde endlich verkauft.“

Ich trete neben sie an das Küchenfenster. Meine Schwiegereltern wohnen am Rande von Kerken. In ihrem zauberhaften alten Backsteinhaus ist schon der Großvater meines Mannes aufgewachsen. Ich mag diese Häuschen, die von außen wie Puppenstuben aussehen, innen sehr verwinkelt sind und durch jede Menge An- und Umbauten erstaunlich viel Platz bieten.

„Das Haus stand schon eine Weile leer, nicht wahr?“, frage ich Gisela.

„Seit über einem Jahr. Die Elke und die Heike konnten sich nicht einigen, was sie damit machen sollen, nachdem ihre Mutter gestorben war. Aber es leer stehen zu lassen, ist doch auch keine Alternative“, meint Gisela und sieht mich an. „Ihr hättet es kaufen sollen.“

Ich versuche zu lächeln. So gerne ich meine Schwiegermutter und Kerken mag, hierherzuziehen war für uns nie eine Alternative, auch wenn ich inzwischen gerne am Niederrhein wohne – allerdings in Krefeld, einer Stadt mit einer guten kulturellen Szene. Meine Schwiegermutter kennt meine Gedanken.

„Möchtest du ein Likörchen?“, fragt sie mich. „Ich habe noch Mirabellenlikör da. Hat Hiltrud gemacht. Oder lieber einen Selbstgebrannten? Hinrich hat mir neulich wieder ein paar Flaschen gebracht.“

„Likör. Aber nur einen. Und nur ein halbes Glas. Weißt du schon, wer das Haus gegenüber gekauft hat?“

Gisela schüttelt den Kopf. „Fremde. Sie kommen aus Emmerich oder Goch. So genau weiß ich das nicht.“ Sie sieht mich an und zwinkert mir zu. „Noch nicht.“

„Nun ja, du wirst es schon herausfinden“, meine ich und zwinkere zurück.

Nachdem mein Mann und seine Geschwister ausgezogen waren, hatte Gisela die ehemaligen Kinderzimmer nett hergerichtet und sie manchmal übers Wochenende für Touristen vermietet. Karl-Herbert, mein Schwiegervater, hatte dem nur zugestimmt, weil er dachte, dass sowieso keiner kommen würde. Doch Ines, meine Schwägerin, arbeitet in der Tourismusbranche in Xanten, und schnell waren die ersten Gäste da. Gisela bot Übernachtungen mit Frühstück und Lunchpaket an und bald sprach sich herum, dass ihre Betten bequem, das Bad sauber und das Essen reichhaltig war. Dass sie oft ausgebucht waren, war Karl-Herbert dann doch zu viel. Aber die zusätzlichen Einnahmen waren natürlich nicht zu verachten.

Also hatte er Guido und Heinz-Jörg angeheuert und sie hatten aus dem Schuppen im Garten ein Appartement gemacht und im ehemaligen Stall auch noch zwei Zimmer und ein Bad eingebaut. Karl-Herbert ist zufrieden und Gisela glücklich.

„Weshalb kommen die Leute hierher?“, habe ich damals verblüfft gefragt – aber der Niederrhein hat einiges zu bieten. Xanten ist nicht weit weg, ein Katzensprung – aber auch ein Zeitsprung in die Römerzeit. Es gibt Kevelaer zum Pilgern, Klostergärten zum Schnuppern und viel Landschaft zum Gucken.

„Fahrradtouren am Niederrhein sind im Moment so angesagt“, erklärt mir Gisela, als ich sie ein paar Wochen später wieder besuche. „Es ist kaum zu glauben, wie viele Anfragen ich habe“, seufzt sie.

„Ein Jammer“, murmele ich, um irgendetwas zu sagen, und stelle mich ans Küchenfenster. Gegenüber laufen die Bauarbeiten. „Was machen die denn da?“

„Kernsanierung. Ich glaube, da stehen nur noch die Außenwände“, erklärt Gisela. „Alles machen die neu.“

„Wird sicher hübsch. Weißt du schon was über die Neuen?“

„Eine Frau, geschieden. Ein Sohn, etwa zwölf. Und dann noch so ein Typ – wahrscheinlich der Neue. Aber irgendwie will er nicht wirklich einziehen, sagt zumindest Maria.“

Ja, ja – der Dorffunk, der funktioniert.

Es dauert noch ein paar Wochen, dann waren die Neuen fertig.

„Sie ist eingezogen, aber er kommt immer nur ein paar Tage“, erklärt mir Gisela und schenkt mir noch ein Likörchen nach. Diesmal ist es Pflaume – von Gertrud. „Und der Sohn ist immer eine Woche hier und eine Woche weg.“

„Wechselmodell nennt man das“, erkläre ich.

„Ja, ja, das sagt Anneken auch. Und stell dir vor, in den Tagen, wo der Sohn weg ist, ist sie auch nicht da – da ist sie mit ihrem Neuen bei ihm. Der wohnt in Aldekerk, sagt Günter.“

„Günter wird es wissen.“

„Ich führe eine Liste – an welchen Tagen sie da sind und an welchen nicht.“

„Warum?“, frage ich verblüfft.

„Damit ich weiß, ob es wirklich regelmäßig ist.“ Gisela zwinkert mir zu. „Sie haben sich neulich selbst ausgesperrt – wirklich dumm, aber so etwas passiert. Und deshalb hat sie mir einen Zweitschlüssel gegeben – für den Fall … echt schön ist es dort drüben. Haben sie gut hinbekommen.“

„Hat sie dich durchs Haus geführt?“

„Nein. Willst du es dir mal anschauen?“ Gisela zieht einen Schlüssel aus der Hosentasche. „Ihr hättet das Haus ja auch …“

„Haben wir aber nicht!“

„So ist es vielleicht auch besser“, sagt sie und beugt sich wieder über ihre Liste. „Dieses Wochenende sind sie weg, dann in zwei Wochen wieder.“

Ich schaue ihr über die Schulter, sie macht Kreuze in einen Kalender.

„Und dann hier … da sind sie auch weg.“ Jetzt zieht Gisela eine Liste hervor, studiert sie. „Das passt“, murmelt sie.

„Was?“

„Nun ja – ich habe doch so viele Anfragen – weil der Niederrhein so schön ist“, sagt sie, „und den Schlüssel. Wäre doch eine Schande, das Haus leer stehen zu lassen … willst du noch ein Likörchen?“

Das stimmt natürlich alles nicht, denn meine Schwiegermutter heißt gar nicht Gisela. Aber schöne Ecken am Niederrhein gibt es wirklich.

Vita

Ulrike Renk, 1967 in Detmold als Ulrike Loefke geboren, wuchs in Dortmund auf und studierte in Aachen Literaturwissenschaften, Soziologie und Anglistik. Sie schreibt Kriminal- und Historienromane und arbeitet als Herausgeberin und Lektorin. Sie lebt mit ihren vier Kindern in Krefeld.