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Der Ort für die ohne Zuhause

Elke Schmitter über den Alten Friedhof Krefeld.

In einem Herbst lange nach dem Tod eines Menschen, der mir einmal sehr nahestand, habe ich dessen Grab gesucht. Ich ging zur Friedhofsverwaltung und bekam eine Auskunft, sogar einen Zettel mit einer Grafik dazu. Es mag meiner grundsätzlichen Orientierungsschwäche geschuldet sein (auch beim Wandern komme ich schnell vom geplanten Wege ab), dass ich lange und vergeblich die sehr gepflegte Anlage abschritt; allein mit ein paar Naturpflegekräften und einzelnen Besuchern, die aber nicht helfen konnten.

Sich auf einem Friedhof verlaufen: In Eile zu sein, zwischen Gräbern, kam mir geschmacklos vor. Aber gerät man nicht selbstverständlich in Eile, und sei es nur eine innere, wenn sich die geschätzte Zeit für ein Vorhaben gleich welcher Art (online ein Formular ausfüllen, eine Reise buchen, Schuhe kaufen) unerwartet dehnt? Jedenfalls: Hier die Unendlichkeit, da der Zugfahrplan – denn ich war nur zu einem kurzen Besuch in der Stadt, in der ich geboren bin –, das löste eine Mischung aus Kleinlichkeit und Andacht aus, die wenig angenehm war. Außerdem war es kalt.

Da tat sich eine freie Fläche auf, mit einem Halbmond aus Stein, ein gepflasterter Weg darauf zu. Blätter von Ahorn, Ulmen und ich weiß nicht was, und ein kleiner, bunter Blumenstrauß, dessen rosa und neongrüne Nelken weithin leuchteten. Den hatte jemand hier abgelegt, vor nicht langer Zeit.

Neunundzwanzig Namen auf einer Steintafel mit ein paar verwehten Blättern darauf, von Efresino Alochina, geboren am 21.5. (ohne Jahreszahl), gestorben am 25.5.1945, bis Maria Wasilenko, geboren am 6.1. (ohne Jahreszahl), gestorben am 17.4.1944. Neunundzwanzig Namen von 282 Menschen, „Bürgerinnen und Bürger vorwiegend aus der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus der Ukraine, die zur Arbeit nach Krefeld verschleppt wurden: Männer, Frauen und Kinder – Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.“ So sagt es die Tafel, die in rücksichtsvollem Abstand angebracht ist und in deren Glas über der Schrift sich im spärlichen Mittagslicht die friedliche Umgebung spiegelte.

Auch diese Tafel hat ihre Zeit. Von ihrem Designer, dem Krefelder Künstler Frank Joerges, hatte ich in den achtziger Jahren etwas gelernt. Dass alles Gemachte, das wir sehen, auf ästhetischen Entscheidungen beruht. Für eine Schrift (und nicht die andere), für ein Material, für eine Form, für einen Abstand und ein Format. Die Schrift der Tafel zum Beispiel, in der das Wort „Kriegsgräberstätte“ gefettet und unterstrichen war, was man heute, im Jahr 2022, vielleicht nicht mehr so machen würde; beides wirkt auf schwer bestimmbare Weise historisch. Das überhaupt zu denken, ist sicher eine Art von Abwehr. Solange man darüber nachdenkt, bleibt die Frage fern, woran Maria Wasilenko schließlich gestorben war. Hunger, Krankheit, Misshandlung, Hinrichtung, Bomben, eine unbetreute Geburt; Gleichgültigkeit. Das ist ein Wort, das unbedingt dazugehört. Ein schweres Wort, weil es keine Ausnahme macht, und weil es jeder selbst bestimmt, in seinen Grenzen: Wo fängt sie an, die Gleichgültigkeit, wo hört sie auf, und wer darf darüber befinden? Hier jedenfalls, an diesem Ort, ist sie aufgehoben.

Vita

Elke Schmitter, 1961 in Krefeld geboren, lebt in Berlin. Sie studierte in München Philosophie und war Journalistin und Autorin bei der „taz“, der „Süddeutschen Zeitung“, der „ZEIT“ und dem „Spiegel“. Die taz Panter Stiftung zur Förderung des unabhängigen Journalismus hat sie mitbegründet, ebenso den PEN Berlin. Sie schreibt Romane, Essays, Lyrik und für das Theater. Im Jahr 2000 wurden sie mit dem Niederrheinischer Literaturpreis ausgezeichnet.