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Der große Fisch

Mithu Sanyal über eine überraschende Begegnung am Südstrand FKK am Unterbacher See.

„Paul“, sagte der große Fisch.

Grüne Wellen wuschen über ihn, weil sich eine Gruppe Schwimmer*innen genau diesen Moment ausgesucht hatte, um ins Wasser zu rennen. Paul stand, er stand seit mehreren Minuten bis kurz vor den Genitalien im Wasser, wo er vom Sprühregen platschender Wasserbälle und spritzender Kinder benetzt wurde. „Woher weißt du, wie ich heiße?“, fragte Paul. Genauso gut hätte er „Du kannst sprechen?“ sagen können oder „What the fuck!“, aber sein Mund entschied sich für: „Woher weißt du, wie ich heiße?“ Wenn man einen Zollstock an seinen Penis legen würde – aber warum sollte man das tun? –, würde die Linie des Metermaßes genau an der Stelle auf den sandigen Grund des Sees treffen, wo der Fisch zu ihm hinaufschaute und nachlässig mit der Schwanzflosse wedelte, sodass sich eine Wolke aus Algen löste und blasenwerfend zur Wasseroberfläche schwebte.

„Du heißt Paul?“, fragte der Fisch.

Einen Moment lang fiel Paul keine Antwort ein, also nickte er schweigend.

„Ich auch“, sagte der Fisch.

„Paul?“, fragte Paul.

„Paul“, bestätigte der Fisch.

„Warum?“, fragte Paul und entschuldigte sich sofort. „Unsere Eltern hätten sich wirklich ...“

„Nein, meine Eltern nannten mich ... “, unterbrach ihn der Fisch und machte ein Geräusch, das Pauls Mund mit dem Geschmack von Salz und Sehnsucht erfüllte, so als würde er genau in den gelben Ball der Sonne schwimmen.

„Kannst du das noch mal sagen?“, fragte Paul und wünschte, der Fisch würde für den Rest des Nachmittags seinen Namen wiederholen, während Menschen mit ihren Körpern ins Wasser gingen und „Oh, kalt!“ riefen und aus dem Wasser rauskamen „Gar nicht so schlimm, wenn du erst mal drin bist!“ bemerkend und nur Paul halb nass und halb trocken blieb, ein Zwischenwesen, das mit Fischen kommunizierte. 

„Paul nennen mich nur deine Freunde hier“, unterbrach der Fisch seine Gedanken, und Paul reimte sich zusammen, dass der Fisch damit die anderen nackten Menschen am See und im See und auf dem See meinte.

„Hast du Mais?“, fragte der Fisch. Es passierte nicht jeden Tag, dass man einen sprechenden Hecht? Butt? Karpfen? am FKK-Strand traf, da konnte man nicht erwarten, dass jedes Wort Sinn ergab. „Die meisten Freunde füttern mich mit Mais“, fügte der Hecht/Butt/Karpfen hinzu.

„Mais?“, sagte Paul und wunderte sich nicht zum ersten Mal über seine Spezies. „Nein, aber meine Frau, die Ilsebill, hat Äpfelchen, wenn du magst.“

„Deine Frau heißt Ilsebill?“

„Du weißt schon“, sagte Paul.

„Was?“, fragte der Fisch und drehte sich langsam um seine eigene Achse. Sand und Algen wirbelten auf, und Paul fürchtete für einen Augenblick, der Fisch wäre verschwunden. Doch als sich das Wasser wieder klärte, war er genau dort, wo er vorher gewesen war, in direkter Linie mit seinem Penis und so groß, dass Paul beide Arme gebraucht hätte, um ihn hochzuheben.

Männlein, Männlein, Timpe Te. Buttje, Buttje in der See ...“, erklärte Paul.

„Ich bin kein Butt“, sagte der Fisch empört.

„Natürlich nicht“, beschwichtigte Paul. „Echt nicht?“

„Nein“, sagte der Fisch. Er schaute ihm ohne zu blinzeln in die Augen und Paul starrte zurück, bis seine Augen tränten und ihm einfiel, dass Fische keine Augenlider hatten.

„Können wir das abkürzen?“, fragte der Fisch.

„Absolut“, sagte Paul. „Selbstverständlich. Genau.“

„Also?“, fragte der Fisch.

„Also,“ sagte Paul, „absolut, selbstverständlich ... da habe ich schon gesagt, nicht wahr? Genau ... ich meine ... kannst du Wünsche erfüllen?“

Der Fisch seufzte.

„Du kannst!“

„Psst“, machte der Fisch.

„Nur einen Wunsch!“

„Dann würdest du dir doch sowieso nur 1000 weitere wünschen“, sagte der Fisch.

„Würde ich nicht. Versprochen!“

„Hast du deine Finger gekreuzt?“, fragte der Fisch.

„Niemals! Versprochen“, sagte Paul und entkreuzte seine Finger.

Einen Wunsch“, sagte der Fisch streng.

„Absolut“, stimmte Paul zu.

„Und was bekomme ich dafür?“

„Mais?“

„Ich dachte, du hast keinen Mais?“

„Äpfelchen?“

„Deal!“

Geld. Gold. König von Deutschland sein, dachte Paul und dann dachte er, Salz, Sehnsucht, direkt in den orangenen Ball der Sonne schwimmen ... Geld ... goldener Ball der Sonne ...

Bille schaute Paul mit lachenden Augen an, als er aus dem See stapfte. Vom Nordstrand hörte er bereits die Durchsage: „Für heute ist die Badezeit leider zu Ende ...“ Die Gänse flogen über die schwarzen Boyen, die den Schwimmerbereich wie Plastikbaumstämme abgrenzten, und informierten die letzten Besucher:innen laut gackernd, dass das Wasser bis zum nächsten Morgen ihnen gehörte. Während sie ihre Flügel falteten, beruhigte sich der See und wurde wieder glatt und schlammig und braun mit einem Schuss Grün und irgendwo wandte sich ein Karpfen durch seine Tiefen.

„Du bist ja gar nicht reingegangen“, sagte Bille und pellte ein hartgekochtes Ei mit spitzen Fingern. „Möchtest du auch eins?“

Paul wickelte sich in sein Handtuch und spürte das Prickeln des Frottees an seinen Schultern und die beruhigende Schwere des Eis in seiner Hand. Es gab nichts Banaleres als ein hartgekochtes Ei und gleichzeitig nichts Wunderbareres. „In dem See ist ein riesiger Karpfen“, vertraute er ihr an.

„Paul“, nickte Bille und salzte nach.

Vita

Mithu Sanyal wurde 1971 in Düsseldorf geboren, wo sie auch heute lebt, und ist Kulturwissenschaftlerin, Schriftstellerin, Journalistin und Kritikerin. 2009 veröffentlichte sie ihr Sachbuch Vulva. Das unsichtbare Geschlecht, 2016 Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens. 2021 erschien bei Hanser ihr erster Roman Identitti, der auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises war und mit dem Literaturpreis Ruhr und dem Ernst-Bloch-Preis ausgezeichnet wurde.