Textstellen

Der Gewinner

Jovan Nikolić über einen besonderen Flieder in Köln-Ossendorf.

Am Stadtrand Kölns in Ossendorf in einer Ecke eines Vorgartens, unter den flackernden Lichtpunkten des durchlässigen Wipfels der hohen Pappel und unter dichtem Gestrüpp, wächst wilder Flieder ein paar Meter über dem Boden. Ein Ast, so dick wie ein menschlicher Unterarm, kriecht über den Rasen. Und erst wenn er in einem schier ungestörten Raum ankommt, verzweigt er sich aus seiner Nacktheit des Winterschlafs zu einem Blätterdach mit herzförmigem Laub. Seine Zweige recken in ihrer aufsteigenden, schrägen Bahn die Hälse empor, und auf ihren Spitzen entfalten sich lila Blüten von berauschendem Duft. Dieser Schmuck schien geduldig auf den Sonnensegen gewartet zu haben, um im Frühling als Explosion versteckten Lebens auszubrechen.

Unter den Wipfeln der mächtigeren Bäume wächst der Ast des Flieders, der Erdschwere trotzend, fern der Regeln einer natürlichen Baumgestalt. Ist es ein Bangen, in einem unrichtigen Körper zu leben, ist es schmerzhaft, auf dem Erdboden kriechend zu wachsen, um in der ersten erreichten Luftlücke wieder einen leichten und schweren Aufstieg in Richtung Sonne zu wagen? Was ist der Preis eines solchen unnatürlichen Wachstums, um auf lebenspendendes Licht zu stoßen? Dieser Flieder war dazu bestimmt, in einer Vielzahl anonymer Tode in der Natur zu verkümmern, auszutrocknen und zu verrotten. Nein! Er machte sich frei von der vorherbestimmten Unumgänglichkeit. Er begann, auf dem Erdboden einem Stück seines Himmels nach zu folgen. Unter der drohenden Gefahr, von der umgebenden Vegetation erstickt zu werden, fügte er auf dem Weg seines horizontalen Wachstums niemandem Schaden zu. Er schlängelte sich auch nicht durch welkes Gras und moderiges Laub; geometrisch in die kürzeste Richtung zielend, beeilte er sich, das Licht zu umarmen. Er wuchs voller Kraft heran, sammelte Reserveenergie. Er verschwendete sich nicht, indem er etwa auf seiner Bahn zur Sonne geblüht hätte. Er ließ einen kahlen Stamm wachsen und wartete auf den Augenblick, in dem all das eingesperrte Potenzial bis zum letzten Tropfen aus ihm herausströmen würde.

Er genoss die Segnungen der chtonischen und der Uranwelt; die Wurzel unter der Erde, die Krone wie eine ausgestreckte, frohlockende Hand gen Himmel. Er errang den Sieg über den Tod, lief seinen Marathon und erreichte die Ziellinie. Er besiegte sich selbst und sein vorgegebenes Schicksal, den Fluch des Verlierers. Er überwand seine Krankheit, verwandelte sie in Leidenschaft. Seine Schwäche verwandelte er in eine Tugend. Er erhob sich in eine höhere ätherische Welt durch den Instinkt seiner Spezies und den starken Entschluss, zu sein. Was für eine Ode, die Hymne des Lebens auf diesem Planeten! Was für eine Pilgerreise, die Anbetung der Sonne! Was für ein innerer Wille des Chlorophylls, der Triumph des Archetyps, des unerschütterlichen Verbs – wollen, ein stiller Schrei bis zu den Ohren der Götter: – Ich will!

Nach dem scheinbaren herbstlichen Absterben und dem Winterschlaf, wenn alles Grün aufhört, den Kopf in Richtung Sonnenlicht und -wärme zu heben und euphorisch Düfte zu verbreiten, so wie Gläubige in ihren Gebeten den Schöpfer und die Herrlichkeit des Seins preisen: Welche Kraft ist es, die den Samen dazu bringt, empor zu keimen, die die Blätter austreiben und die Blüten öffnen lässt? Ist es das Fieber der Ekstase, die höhere Gegenwart des Geistes; das, was Jakob Böhme bezeichnet als: Die Verzückung ist das Wesen des Geistes?

Kein anderer Flieder dort in der Umgebung hat die Kraft und die Pracht des Duftes seiner Blüten. Sein Duft ist angereichert mit einem Überschuss an pflanzlichem Endorphin, der Kraft einer kühnen Leistung, des starken Verlangens nach Leben trotz allem, des hieratischen Aktes der reinen Quintessenz. Er strahlt ein einzigartiges, prickelndes, berauschendes Parfüm aus, den trotzigen Klang seiner Seele, die die vorgegebenen Grenzen des schmerzerfüllten Schicksals überschreitet; er sendet einen stolz triumphierenden Duft aus. Er hat das Recht auf einen Triumph.

Welche Art von Nachkommen wird aus den überall verstreuten Samen dieses Flieders heranwachsen? Werden sie würdige Vertreter ihres Vorfahren sein, werden sie sich mit dem ererbten triumphalen Duft schmücken? Dieser Flieder hat sich bereits für die nächsten drei Leben erlöst, sein Baum hat erfüllt, was er der Blume versprochen hat und wird unter den Bäumen des Paradieses wiedergeboren, weil er der Gewinner ist!

Aus dem Serbischen von Cornelia Marks

Vita

Jovan Nikolić wurde 1955 in Belgrad geboren. Er begann 1982 als Journalist für verschiedene serbische und Roma-Medien in Belgrad zu arbeiten. Er war ein Kritiker des Regimes von 1990 und emigrierte als verfolgter Schriftsteller während des NATO-Bombardements in Serbien. Sein literarisches Schaffen umfasst Lyrik, Prosa, Liedtexte, Theaterstücke und Librettos. Er ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und lebt in Köln.