Textstellen

Der Blick ins Auenland

Marco Jonas Jahn über eine Zugfahrt durch die Ruhrauen zwischen Duisburg und Mülheim.

Du sitzt im Zug und fährst. Du ratterst von A nach B, zwischen Duisburg und Oberhausen und vielleicht nicht nur zwischen zwei Städten und Stätten der alten Welt, sondern auch zwischen zwei Welten, weil du gerade liest oder arbeitest am PC oder Lesen Teil deiner Arbeit ist oder weil du einen Knopf im Ohr hast und dein Handy dir gibt, was auch immer du gerade brauchst oder von dem du denkst, dass du es brauchst oder weil du kommunizierst in Gesprochen oder Geschrieben. Und deine Sinne werden geflutet von den anderen Menschen im Abteil, die vielleicht auch kommunizieren oder zumindest existieren, was ja völlig okay ist, denn du willst ja nicht allein sein auf der Welt, aber vielleicht ja manchmal in deiner Welt oder deinem Abteil. Doch da ist auch ein junges Pärchen mit Kind, was gerade zu sprechen beginnt, also das Kind so entwicklungstechnisch generell, und der Vater hartnäckig und möglichst schnell versucht, dem unschuldigen Sohnemann die großen Worte unseres Zeitalters zu vermitteln und immer wieder animierend auf ihn einredet: „Sag mal Alter! Alter! Sag mal Alter!“, bis der Knirps dann wirklich „Alter“ sagt und von seinen Erzeugern gefeiert wird und du zuckst und „Zug abgefahren“ rattert es durch die Welt in deinem Kopf, doch plötzlich wie auf Knopf-Druck schaust du aus dem Fenster.

Das Tempo der Bahn bleibt gleich, doch mit einem Mal ist da Zeit zum Luftholen.

Bäume – Tümpel – Wiese – Fluss
Ein Bild, ein Film, so wie ein Kuss
Weht Zauber ins Abteil

Bäume – Tümpel – Wiese – Fluss
Gar nicht so viel und doch ein Muss
Triffts dich wie Amors Pfeil
 

Das ist dein Blick ins Auenland und die Sehnsucht, sich auf dieser Wiese zu betrinken oder bei Hitze deine Füße in der Ruhr zu kühlen und im Schatten dieser Bäume zu dösen, um anschließend Steine in den Teich zu werfen, der eher einer großen Pfütze gleicht, die dich einlädt, in Gummistiefeln zum Sprung anzusetzen. Es ist schön und unerreichbar, denn du kannst hier nicht einfach aussteigen. Es ist schön und unerreichbar und dadurch irgendwie noch schöner, weil du diesen begrenzten Moment so intensiv zu inhalieren hast. Viel zu sehen gibt es da ja gar nicht, aber das Wenige vermittelt dieses gute Gefühl, diese Gewissheit, dass es in jeder Dunkelheit ein Licht gibt,

dass es in jedem schwachen Film eine starke Szene gibt, die du in Erinnerung behältst.

dass du in deiner Hilflosigkeit mit Blick auf die Welt trotzdem helfen kannst.

dass auf jeder schlechten Party irgendwann auch ein guter Metal-Song gespielt wird.

dass sich schon immer auch der größte Kultur-Banause etwas Kultur schätzend gönnte.

dass es in jedem schlechten Prosa-Text einen überraschenden Reim geben könnte.

dass in jedem Publikum ein Mensch sitzt, dem dein Kram so richtig gut gefällt.

dass es in dieser sonst so dichten, grau wirkenden Besiedlung weite grüne Wiesen geben kann, die du sogar spürst, wenn dein Zug im Dunkeln daran vorbeirattert und sich im Fenster bloß dein lächelndes Gesicht widerspiegelt und du denkst: „Alter, ist das gut.“

Vita

Marco Jonas Jahn, geboren 1976 in Oberhausen, ist freier Autor und Bühnenpoet. Er studierte Germanistik und Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. Nach dem Studium zog er nach Mönchengladbach, wo er seitdem schreibt, lebt und liebt. Er veranstaltet herkömmliche wie ungewöhnliche Shows, ist Stammautor zweier Lesebühnen und Ensemble-Mitglied einer Kabarettveranstaltung. Er mag Wolken und Chili-Öl und das Geräusch fallender Spielwürfel.