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Der Abriss eines Weltwunders

Malte Küppers verabschiedet sich vom alten Duisburger Hauptbahnhof.

Kannst du dir vorstellen, die Pyramiden von Gizeh zu renovieren? Das Fundament einmal grundlegend erneuern, den Innenraum barrierefrei gestalten, vielleicht ein bisschen moderne Kunst in die Gänge kleistern. Dieses völlig unzeitgemäße Design vielleicht mal auf den Kopf stellen. Wer will schon ein großes Dreieck in der Wüste? Wieso nicht mal ein Zylinder oder gleich eine riesige Kugel? Ein neuer Anstrich gehört dann auch dazu, vielleicht ein flippiges Grün, um etwas Farbe in diese staubige Umgebung zu bringen. Die berühmtesten Street-Artists könnten ein paar Graffitis auf die neue, riesige Kugel ballern. Es wäre sogar möglich, diese neue, riesige Kugel, die einst die Pyramide war, wie einen Planeten zu bemalen, und jedes Jahr wird daraus ein anderer Planet. Mal steht dort die Erde, mal die Venus, mal werden riesige Ringe angekarrt, um den Saturn darzustellen. Das wäre doch etwas, oder? Nicht? Das ist eine Schnapsidee, sagt ihr? Eine Verschandelung eines Weltwunders? Nun, damit habt ihr sicherlich recht. Aber wieso wird genau das mit dem Duisburger Hauptbahnhof gemacht?

Als einziges Gebäude, das je komplett von Gaffa-Tape und Paketklebeband zusammengehalten wurde, hat der Duisburger Hauptbahnhof denselben Status, nur wird das nicht wertgeschätzt. So erzählt doch jeder Streifen Klebeband eine Geschichte der Stadt. Die unzähligen Tauben, die mit Schmackes dagegen flogen, sei es als Mutprobe oder als Suizidversuch, die geworfenen Steine jugendlichen Leichtsinns, wenn die Pubertät so richtig rebellisch kickt, die Klebestreifen, die einfach nur dort hängen, um ein gewisses Gefühl von anarchischer Symmetrie entstehen zu lassen. Nein, wenn über den Duisburger Hauptbahnhof geredet wird, dann vor allem darüber, wie gut man von hier aus Duisburg wieder wegkommt. Doch wer regelmäßig die klare Botschaft an seiner Front sieht, die den Wunsch „Duisburg Nazifrei" deutlich äußert, wer sich im volltrunkenen Zustand einen letzten verzweifelten Imbiss gegen den sich anbahnenden Kater gekauft hat, wer sein tägliches Cardio-Training leistet, weil jedes Mal der viel zu lange Weg vom Haupteingang zum letzten Gleis unterschätzt wird oder wer Menschen mit einer Leidenschaft für Escape-Rooms den Auftrag gegeben hat, den Weg zur U-Bahn von der Eingangshalle aus zu finden, der weiß, dass dieses Gebäude so viel mehr ist.

Wenn der Umbau abgeschlossen sein wird und die alten Geschichten von neuem Glanz überdeckt sind, wirkt eine Ankunft in Duisburg vielleicht angenehmer. Vielleicht fühlt sich die ein oder andere Person willkommener. Doch den subtilen Duft von Urin, billigem Dönerfleisch und geplatzten Träumen, aber auch von Abschiedstränen, Ankunftsfreuden und gefundenen Beziehungen wird man noch immer spüren. So wie bis heute noch Gerüchte um den großen Emo-Treff auf der alten Bahnhofsvorplatte durch die Hallen schweben, wo in den frühen 2000er Jahren unzählige Jugendliche mit schwarzen toupierten Haaren und Nietengürteln auf dem Boden saßen. Ein neuer Bahnhof bietet Grundlage für neue Geschichten und Erinnerungen. Und trotzdem ist es wichtig, auch den alten, schmuddeligen Charme mit seiner eigenen wunderbaren Abgeranztheit weiter hochzuhalten. Duisburg ist nicht hochglanzpoliert und einladend, modern und glattgebügelt. Duisburg ist garstig und gewöhnungsbedürftig, rustikal und kantig, aber vor allem auch herzlich und pragmatisch. Hier findet Mensch seinen Platz, wenn Mensch will! Und das darf auch ein Hauptbahnhof zeigen.

Vita

Malte Küppers, geboren 1988 in Viersen, lebt und arbeitet in Duisburg. Das ist aber gar nicht schlimm. Die Stadt bietet ihm immer wieder genug Anreize und Inspirationen, die er in seine Texte einfließen lässt. Seit Anfang 2016 steht er als Poetry-Slammer auf Bühnen, hat schon mehrere große Meisterschaften bestritten, Literaturpreise gewonnen und ein Buch veröffentlicht. Zusätzlich greift er als Sozialarbeiter noch vielen Jugendlichen in Duisburg unter die Arme. So sehr ihm also bewusst ist, was im Ruhrpott alles im Argen liegt, hat er hier umso mehr das Gefühl, aktiv an den Geschichten seiner Heimat mitschreiben zu können.