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Das Wunderland der Gastarbeiter

Dinçer Güçyeter über das ehemalige Pierburg-Werk in Nettetal.

Die Reiseführer lügen, hemmungslos! In jedem Nettetal-Prospekt werden die Seen, die ländliche Idylle, die Wälder mit ihren bezaubernden Grüntönen und die Wanderwege vorgestellt. Eine Stadt für Geist und Körper, ein Erholungsort mit zwölf Seen. Wer aber durch einen Stadtteil wie Lobberich fährt, der sieht, dass die Reiseführer ein Abklatsch, das Leuchtschild einer Revue sind.

Mitten in der Stadt, hinter der Burg Ingenhoven, steht immer noch das riesige Gebäude, das in den 70ern ein Anziehungspunkt für viele Gastarbeiter*innen war. Zuerst trug es den Namen Rokal, dann Pierburg. Eine Firma auf der Robert-Kahrmann-Straße, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem auf Vergaserproduktion spezialisiert hatte. In Reiseführern wird in einer kleinen Spalte nur das Weltunternehmen Niedick erwähnt, in dem seit Mitte des 20. Jahrhunderts Samt hergestellt wurde und das es seit 2003 nicht mehr gibt. Samt hat einen romantischen Klang, wie Berge, Wälder, Seen, zumindest klingt es romantischer als Vergaser für Kriegsfahrzeuge. Die und andere Teile für Hubschrauber und Panzer wurden bei Pierburg gegossen und montiert, für die Bundeswehr, für Hollywood-Land und für die Sultane in Katar. Nur das Wirtschaftsministerium war stolz auf die Perle Nettetal, umgeben von Wäldern und Seen.

Um die zweitausend Menschen haben in den Montagehallen gearbeitet, die Maschinen piepsten, knackten 24 Stunden am Tag, am großen Tor standen die LKW, entweder zum Abholen der Ware oder zum Liefern des rohen Stahls. Während des Schichtwechsels um 14 Uhr kam es zu einer Menschenflut, in der Firma, in der gesamten Stadt. Die Arbeiter*innen betraten oder verließen die Fabrik, es kam zu langen Schlangen an der Stempeluhr. Drei Wege gab es, die zu der Fabrik führten, der Weg durch den Ingenhovenpark war wegen seiner Breite der beliebteste.

Während die Bankiers, die Kaufmänner der Stadt auf der Terrasse der Ingenhoven-Burg ihr Rotbarschfilet mit zwei gekochten Kartoffeln, dekoriert mit Schnittlauch, in Speiseglocken serviert bekamen, liefen die Arbeiter*innen mit ihren hängenden Schultern am Efeuzaun vorbei. Viele von ihnen standen immer wieder vor der Speisekarte am Burgtor und schüttelten angesichts der Preise den Kopf. Mit dem Geld für ein Fischfilet mit zwei gekochten Kartoffeln hätte man bei Aldi einen ganzen Einkaufswagen füllen können.

Pierburg wurde 1984 von Rheinmetall aufgekauft, ab da nahm die Zahl der Arbeiter*innen rapide ab. 2013 wurde zuerst die Gießerei, danach der ganze Betrieb nach Neuss verlegt. Wenn man heute an dem Gebäude vorbeigeht, glaubt man immer noch das Piepsen, das Knacken der Maschinen, die Hektik der Arbeiter*innen, das Ticken der Stempeluhr zu hören, dabei ist es nur der Wind, der durch die leeren Montagehallen zieht.

Vita

Dinçer Güçyeter ist 1979 in Nettetal-Lobberich geboren und lebt auch heute noch dort. Er ist gelernter Werkzeugmechaniker, arbeitet jedoch als Regisseur, Herausgeber und Schriftsteller. 2011 gründete er den Elif Verlag mit dem Programmschwerpunkt Lyrik.