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Das Orakel

Hank Zerbolesch über eine besondere Begegnung auf dem Unterbarmer Friedhof.

Das Leben auf dem Friedhof war wie der Verkehr in einer Bungalowsiedlung: ruhig und langsam. Beinahe jeden Tag hatte er auf der Bank gesessen, gleich hinter dem Eingang. Er hatte beobachtet, hier und da jemandem zugenickt, und heute, an seinem letzten Tag, hatte er sich mit dieser Frau unterhalten. Wie er kam sie täglich auf den Friedhof, zog, immer vor einem anderen Grab, ihren Klappstuhl auseinander, setzte sich. Im Sommer wie im Winter, im Regen wie im Schnee. Immer saß sie da, zündete sich eine Zigarette an und las den Toten vor. Hesse, Lenz, Grass, sowas. Und als sie am Grab von Friedrich Engels Senior – einer vier Meter hohen gotischen Fiale – „Das Kapital“ gelesen hatte, hatte sie das ohne jeden Hohn getan.

Aber heute war sie vor ihm stehen geblieben. Ohne ein Wort zu sagen hatte sie ihren Stuhl neben seiner Bank aufgebaut, sich hingesetzt, und zusammen sahen sie nun durch den Torbogen hindurch auf das halbe Dutzend Menschen draußen vor der Kapelle.

„Es kommen immer weniger Leute zu den Beerdigungen“, sagte sie.

„Vielleicht“, sagte er, „wollen die nicht daran erinnert werden, dass das alles mal vorbei ist.“

„Unsinn“, sagte sie. „Als ob einen der Tod nichts angeht.“ Sie hielt ihm eine Schachtel Zigaretten hin. Peer 100. Er nahm eine, gab ihr Feuer.

„Siehst du das Mädchen?“, fragte sie. „Die da vorne? Mit dem blauen Kleid?“ Sie zeigte auf eine junge Frau. Er nickte. „Jemand sollte ihr das Handy wegnehmen.“

„Vielleicht muss sie arbeiten“, sagte er.

„Da oben“, sagte sie und zeigte tief in den Friedhof hinein, „liegt die halbe Wuppertaler Schwesternschaft. Die haben alle bis zum letzten Atemzug gearbeitet. Und als es dann Zeit wurde, glaub mir, da haben sie alle bereut. Arbeiten.“

„Woher wissen Sie das?“, fragte er.

„Sie hatten alle dasselbe Lieblingsbuch“, sagte sie und zog so lange an ihrer Zigarette, dass er dachte, sie würde husten müssen, wenn sie den Qualm inhalierte. Aber sie hustete nicht. Stattdessen fragte sie: „Und du? Was hast du vor mit deiner Zeit?“

Das Telefon der jungen Frau klingelte. Sie entschuldigte sich bei den anderen, drehte sich um, hielt sich das Handy ans Ohr. Hallo?

„Gute Frage“, sagte er.

„Weißt du, wie das aussieht?“, fragte sie. „Du, alleine, immer auf dem Friedhof hier?“

„Nein. Wie?“

Sie beugte sich zu ihm. „Das sieht aus, als könntest du es gar nicht erwarten.“ Sie nickte, lehnte sich zurück, zog an ihrer Zigarette.

„Okay.“

„Die Welt ist zu groß, um immer nur auf einer Bank auf dem Friedhof zu sitzen.“ Sie drückte die Zigarette aus. „Du kommst schon noch früh genug hierher.“

„Glauben Sie?“

„Auf jeden Fall“, sagte sie und zündete sich eine neue Zigarette an. „Und jetzt verschwinde gefälligst.“ Mit wehenden Handbewegungen scheuchte sie ihn von der Bank. Er stand auf. „Such dir Menschen“, sagte sie. Er ging los. „Such dir Orte!“ Und als er im Torbogen stand, rief sie: „Und such dir bloß keine Arbeit!“ Er sah auf die junge Frau mit dem Handy. Sie telefonierte noch immer. Die anderen waren nicht mehr da.

Er ging vom Friedhof, über den Parkplatz, auf die Straße. Ein Auto. Menschen. Leben.

Vita

Hank Zerbolesch, 1981 in Düsseldorf geboren, lebt seit 2004 in Wuppertal. Seine Schulzeit war so kurz wie möglich, studiert hat er nicht. Geld verdiente er als Altenpfleger, als Veranstaltungstechniker und auf viele andere Arten. Seit 2014 schreibt er Romane, Hörspiele, Kurzgeschichten.