Textstellen

Das Geheimnis von Genholland

Ulla Lenze über einen verheißungsvollen kleinen Ort am Niederrhein.

Wir befinden uns in einer Zeit der Konkurrenzlosigkeit und freudigen Naivität, was die Freizeit betrifft. Im Sommer macht man Radtouren, viele Radtouren, denn etwas Besseres kann man hier kaum machen. Der Hintern tut zwar allen weh, aber es sind die frühen Achtziger, man wird nicht durch die Fitnessapp-Screenshots auf Social Media des Irrtums überführt, bereits zwanzig Kilometer für viel zu halten, man ist also seelenruhig stolz auf den Muskelkater, der jedes Wochenende aufgefrischt wird.

Fangen wir hier an: Mit dem ersten Bauernhof hinter dem letzten Haus beginnt ein kleines Wäldchen und eine kurze Mountainbike-Strecke (die die Mädchen stets meiden, weil dort nur Jungs sind), dann öffnet sich der Feldweg wieder zum flachen Land hin und zum Heiligen Matthias, seinem kleinen Backsteinhäuschen, das keinen anderen Zweck erfüllen muss, als dem steinernen Bildnis des Heiligen ein Zuhause zu sein. Matthias ist der dreizehnte Apostel, der den Judas ersetzt hat. Doch es genügt, was hier ist; die Andachtsstelle mit der Holzbank bildet zuverlässig ein erhabenes Zentrum niederrheinischer Feldeinsamkeit, eine selige Leere, die zusammengehalten wird von Rüben, Weizen und Raps.

Und dann taucht das Schild auf: Genholland. Genholland! Das ist schon Ausland, oder? Und so nah? Falls es nicht wirklich Holland ist, dann zumindest eine Art Vor-Holland, wo ein paar Holländer leben?

Doch schon werden sie, nach einigen Wohnhäusern, Zäunen und Einfahrten, vom Wald geschluckt. In seinem tiefen, dunklen Licht hört man den Picknickkorb auf dem Gepäckträger der Mutter besonders laut klirren. Man denkt bereits an die panierten Schnitzel, Frikadellen, hartgekochten Eier, den Kartoffelsalat, die Limo, und den Marmorkuchen (auf keinen Fall irgendetwas veganes und superfoodhaft Gesundes). Hinter dem Wald erstreckt sich erneut weites Land, ein sonniger Kornduft weht herüber, roter Mohn säumt den Weg, und die Frage meldet sich: Wo ist Genholland? Man bemerkt dieses Genholland immer zu spät; jetzt ist es schon wieder vorbei. War es überhaupt da? Gibt es Genholland? Der Vater zeigt weit hinter sich, als müsse er weit werfen, wie kann das sein, dass sie es nie bemerkt?

Jahrzehnte später ist Genholland auf Google Maps eine sehr kleine Siedlung, umgeben von Hilderath, Sittard, Schriefersmühle, Mehlbusch und Buchholz. Ein Mühlenbach fließt hier. Die Kapelle Mariä Geburt steht hier. Aber bis heute, obwohl ich Hunderte Male hindurchgefahren sein muss, fehlt jedes Bild, was eventuell am auratisch-enigmatischen Wort Genholland liegt, das jeden realen Sinneseindruck dominiert haben muss.

„Liegt Genholland also nicht in Holland?“

Die Eltern kennen das schon, manchmal stellt ihr Kind tatsächlich leicht doofe Fragen, aber manchmal lachen sie auch und geben das Gesagte an Verwandte weiter (sie hat wirklich gefragt: „Haben Schmetterlinge Nasen?“).

Auf die Genholland-Frage wird mit leicht sorgenvollem Ernst reagiert. „Gen heißt doch nach, es bezeichnet die Richtung! Sicherlich wurde der Ort so genannt, weil in diese Richtung Holland liegt.“

Enttäuschend.

Genholland ist im Übrigen so nah, dass sie mit ihren Freunden zu Fuß hingehen kann. Auch die anderen Kinder gehen dem Wort auf den Leim und erwarten hier bereits die abenteuerliche Fremde, immerhin. Aber die Straßen sind still und leer, die Ödnis kaum anders als bei ihnen.

Vita

Ulla Lenze, geboren 1973 in Mönchengladbach, studierte Philosophie und Schulmusik in Köln und lebt heute in Berlin und in der Märkischen Schweiz. Sie war Writer-in-Residence in Damaskus, Mumbai, Istanbul und Venedig, ihre Lesereisen führten sie u. a. nach Nordafrika, Indonesien und Australien. Ulla Lenze wurde vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2016 und mit dem Niederrheinischen Literaturpreis 2020 für ihr Gesamtwerk.