Textstellen

Da fährt ein Schiff auf dem Rhein

Michael Zeller über ein besonderes Ereignis, das er als Neuankömmling in Bonn vom Rheinufer aus beobachtete.

Ein Schiff ist das erste Bild, das mir von meinen Bonner Jahren geblieben ist, ein Schiff, das den Rhein hinauffährt, gegen den Strom. Wie von ferner Hand gezogen, ohne Laut zu geben, so wie Schiffe fahren, vom Ufer aus gesehen. Aber diesmal war der leisen Langsamkeit eines dahingleitenden Schiffes, mitten auf dem Fluss, noch etwas anderes beigemischt: eine vage Beklommenheit, unmittelbar zu fühlen, doch schwer zu benennen. Es waren die vielen Menschen, noch in dunkler Winterkleidung, die auf den Brücken standen, an den Ufern, unzählige, die dem Schiff nachschauten, wie es dahinzog durch Bonn Richtung Süden. Stumm wie sie stand ich unter ihnen. Nur ein Schluchzen war manchmal zu hören, ein Schniefen. Eine Frau putzte sich die Nase. Es klang so laut in dieser Stille, dass ich mich umschaute nach ihr.

Eine solche Stimmung steckt an, wenn man jung ist und fremd am Ort. Jetzt war ich selbst traurig geworden und mochte so etwas wie einen Verlust empfinden. Jemand, der mein ganzes bisheriges Leben begleitet hatte, von dem ich in jeder Zeitung las, dessen Stimme ich vom Radio her kannte, die hohe Stimme eines alten Mannes, mit dem stark singenden Tonfall des Rheinlandes, den ich in der Wochenschau sah, wenn er irgendwo in fernen Ländern die Treppe aus dem Flugzeug niederstieg, lächelnd, den Hut in der Hand, mit der anderen leicht den Männern zuwinkend, die unten auf ihn warteten, fast alle auch so unfassbar alt wie er und ebenfalls mit einem Hut in Händen. Neuerdings, seit ein Fernsehgerät bei uns im Wohnzimmer stand, begegnete er mir fast allabendlich im Parlament, immer redend, ziemlich oft mit Händen und Armen.

Als Kind, als Junge hatte ich ihm nicht entrinnen können. Die Erwachsenen sprachen ständig über ihn, schimpften, spotteten, kaum jemand lobte ihn. Er war allgegenwärtig in einer Kleinfamilie in Westdeutschland, mir näher als die Onkel und die Großmutter und die kleine blonde Kusine, die allesamt in anderen Städten lebten und denen ich vielleicht einmal im Jahr begegnete. Und doch war mir dieser uralte Mann mit Hut auch unendlich fern, kaum aus Fleisch und Blut, ein Bild, eine Stimme. Ein Wesen aus der entrückten Welt der Erwachsenen. Über den Wolken schreitend, in langem Mantel, Hut in der Hand, unberührbar und doch – er war einfach da, Teil meines kleinen hochwichtigen Alltags. Über viele Jahre, solange ich denken konnte, gehörte er zu uns.

Und jetzt, auf einen Schlag – mit diesem Tag heute – war das alles vorbei.

Nie mehr würde er zu sehen und zu hören sein. Das, was von ihm geblieben war, fuhr auf diesem Schiff dahin. Ein Sarg. Der kam aus Köln, wo er im Dom aufgebahrt worden war und alle wichtigen Männer der Welt, Könige und Präsidenten aus Ost und West, angereist waren, um Abschied von ihm zu nehmen. Diesmal waren die Hüte, die sie in den Händen drehten, samt und sonders schwarz. Die Menschen hier um mich herum, an den Ufern des breiten Flusses, fast alle älter als ich, sie schauten dem Schiff nach, als wollten sie etwas festhalten, ein Stück eigenen Lebens retten. Die meisten hatten feuchte Augen, die Haut ihrer Gesichter war von der winterkalten Aprilluft gerötet. Lichtlos und grau habe ich den Tag in Erinnerung. Ohne einen Hauch von Frühling. Die Bäume am Rheinufer mit ihren starren nackten  Ästen gaben ein trostloses Bild ab. Das Schluchzen nahm zu, je weiter das Schiff aus dem Blick der Wartenden schwand. Nein, festzuhalten war da nichts mehr. Langsam, doch zielstrebig zog das Schiff seine Bahn.

Die Menschen schauten auf einen leeren grauen Strom, wollten sich nicht lösen, und drehten sich dann doch um mit einem Ruck und gingen schweigend davon. Immer noch wurde kein Wort gesprochen. Aber die Bewegung nach langem Stehen in der Kühle des Frühjahrs gab ihnen ihre Körper zurück. Sie mussten, sie durften weitergehen und weiterleben.

Der Alltag empfing uns alle wieder. Als das Schiff sein Ziel erreicht hatte, bald hinter Bonn, der Sarg mit dem alten Mann hochgetragen wurde, um in die Erde seines Gartens gesenkt zu werden, saßen die Bonner wieder bei der Suppe oder im Büro und gingen ihren Geschäften nach.

Wohin ich ging? Ich weiß es nicht mehr. Möglicherweise in meine Bude, der enge Schlauch im sechsten Stock eines Studentenwohnheims in Bonn-Endenich, und schrieb meine ersten Eindrücke nieder in dieser Stadt, in der ich vor ein paar Tagen angekommen war. Alles hier war mir noch völlig fremd. Und doch: Hier war es gerade geschehen, dass ein Teil meines Lebens zu Ende gegangen war:

Konrad Adenauer war tot.

Vita

Michael Zeller, 1944 in Breslau geboren, kam als Student nach Bonn, wo er im April 1967 auf Höhe der Bonner Brücke, der heutigen Konrad-Adenauer-Brücke, die letzte Rheinreise des kurz zuvor verstorbenen früheren Bundeskanzlers beobachtete. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Wuppertal, die ihn 2008 mit dem Von-der-Heydt-Preis, dem Kulturpreis der Stadt, auszeichnete.